Die Stimmen des Flusses

Wenn Spanienurlauber sich im Nordosten der iberischen Halbinsel einmal aus den Touri-Reservaten herausbegeben, stellen sie oft erstaunt fest, dass sie mit ihren spanischen Sprachkenntnissen nicht so recht weiterkommen. Das liegt daran, dass in Katalonien, Valencia und auf den Balearen eine eigenständige Sprache gesprochen wird. In der Öffentlichkeit, zum Beispiel in den U-Bahnen Barcelonas, auf Werbeplakaten und in vielen Tageszeitungen herrscht die ursprüngliche Landessprache vor, das Katalan. Deutsche, die es gewohnt sind, dass überall bei uns zu Hause und auch in einigen Nachbarländern ein für alle verständliches Deutsch gesprochen wird, wundern sich über diese aus ihrer Sicht merkwürdige Abgrenzung. – Warum werden innerhalb einer Nation mehrere verschiedene Sprachen gesprochen, wo wir doch irgendwo auf dem (zugegebenermaßen steinigen) Weg in eine europäische Einheit befinden? Warum mögen sich Katalanen und Kastilier so wenig? Die Beantwortung dieser Fragen erleichtert die Lektüre des spannenden Romans Die Stimmen des Flusses von Jaume Cabré.

Les veus del Pamano

Die Romanhandlung spielt in ihrem Hauptteil während der Zeit der Franco-Diktatur, also zwischen der Mitte der Dreißigerjahre und den ersten freien Wahlen im Jahr 1977. Ein zweiter Handlungsstrang zieht sich bis in die aktuelle Zeit der Nullerjahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Hauptfigur des Romans ist Elisenda Vilabrú, eine wohlhabende Geschäftsfrau, die in einem kleinen, fiktiven Dorf namens Torena in den Pyrenäen an der Grenze zu Andorra und Frankreich lebt. Elisenda kontrolliert das gesamte Dorf, seine Honratioren einschließlich des frankistischen Bürgermeisters Valentín Targa und der Kirchenvertreter der Region. Mit eiserner Hand und mit viel Geld weitet sie ihren Einfluss aus und entwickelt das Tal Vall d’Àssua zur vielversprechenden Skiregion. Die Schreckensherrschaft des Terrorregimes Francos nimmt sie in Kauf und bedient sich dessen Einflusses. Elisendas einzige Schwäche ist ihre Liebe zum Dorfschullehrer Oriol Fontelles, dessen versteckte Aktivitäten im anti-frankistischen Widerstand sie nicht wahrnimmt.
Oriol gibt sich nach außen als loyaler Kamerad des grausamen Targa und vertraut seine Widerstandstätigkeiten nur einem geheimen Tagebuch an, das Jahrzehnte später zufällig die Lehrerin Tina Bros während der Abbrucharbeiten am alten Schulgebäude Torenas findet und Nachforschungen anstellt.

Aus dem brutalen Auftreten der Falange, den Vertreter der Francodiktatur, dem unterdrückten Hass einiger Dorffamilien, deren Männer in den Widerstand geflüchtet sind, der unklaren Positionierung der Kirche sowie aus dem herrschaftlichen Habitus Elisenda Vilabrús entsteht ein gnadenloser Machtkampf, der ein Todesopfer nach dem anderen fordert. – Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Das Original des Romans erschien 2004 unter dem katalanischen Titel Les veus del Pamano, der Autor macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Widerständler. Er erzählt von Gräueltaten der Handlanger des faschistischen Regimes, von Vergeltungsschlägen der katalanischen Guerilla, vom Hass der Unterdrückten und der Unterdrücker, von der Macht der Bestechung ebenso wie von der der Liebe; hauptsächlich der heimlichen und der unerwiderten.

Dabei springt Cabré gerne zwischen den verschiedenen Erzählsträngen der Geschichte über Jahrzehnte hinweg in die Vergangenheit oder die Zukunft. Solche Szenenwechsel sind in der Belletristik als Mittel zur Spannungserzeugung grundsätzlich gang und gäbe. Jaume Cabré aber treibt die Zeitsprünge auf die Spitze: Die Handlung springt nicht nur zwischen Kapiteln oder deutlich voneinander abgesetzten Textsequenzen. Bei ihm wechseln Szenen oft ab- und ansatzlos von einer Zeile zur nächsten, ohne jede Ankündigung mitten in Gedankengängen.

Diese besondere Erzähltechnik und des Autoren Vorliebe für rätselhafte Szeneneinstiege, in denen keine Namen genannt werden, sondern erst einmal „sie“ oder „er“ handelnde Personen sind, sorgen dafür, dass sich die Leserschaft ungeheuer sorgfältig durch das Buch arbeiten muss. In der Regel ist es nach Handlungssprüngen nötig, zunächst ein paar Absätze zu lesen, um dann wieder an den Beginn der Szene zurück zu kehren, sobald man begriffen hat, wo im Plot man sich gerade befindet und welche Personen auftreten.

Nicht unbedingt hilfreich bei der Orientierung in der Geschichte ist auch ihre Personalstärke. Das gesamte Dorf  scheint über mindestens zwei Generationen hinweg in die Geschichte eingebunden zu sein, und darüber hinaus spart der Autor auch nicht an familiären Exkursen, insbesondere dann, wenn es um die verzweigte Familie Elisendas geht, die Vilabrú i Vilabrús. Natürlich kommen auch die typisch katalanischen Vornamen nicht zu kurz, es wimmelt geradezu von Joans, Peres und Jordis. (Bei dieser Gelegenheit kann ich mir einen kurzen Hinweis an spanischkundige Leser nicht verkneifen: Das J wird im Katalanischen nicht wie kastilisch „ch“ ausgesprochen sondern wie im Englischen als „dsch“.)

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Das klingt alles sehr merkwürdig? Du fragst Dich, warum man sich Die Stimmen des Flusses antun sollte? – Diese Frage habe ich mir in der Tat auch gestellt. Denn merkwürdigerweise hatte ich trotz der beschriebenen Stolpersteine im Text doch immer Spaß am Lesen und war nie versucht, das Buch zur Seite zu legen. Vielleicht liegt es am Erzähltalent Jaume Cabrés; daran, dass es ihm gelungen ist, die trockene Faktenlage der historischen Begebenheiten während des Franco-Regimes in eine Geschichte zu verpacken, die aus dem Leben gegriffen zu sein scheint und trotz aller offensichtlichen Erfindungen authentisch wirkt. Vielleicht fühle ich mich aber auch nur durch die detailverliebte Wiedergabe all der kleinen Katalanismen an meine eigene Vergangenheit erinnert, was mich durchaus davon abgehalten haben könnte, den Roman an den faderen Stellen (ja, die gibt es) endgültig abzulegen.

Die Stimmen des Flusses ist bestimmt nichts für LeserInnen, die schnelle und leicht fassbare Unterhaltung suchen. Aber akribische Bücherwürmer, die nicht davor zurückschrecken, sich einen Text zu erarbeiten, werden wahre Freude an diesem Roman haben. Für mich definitiv eine Geschichte, die ich noch ein zweites und drittes Mal lesen werde.

Um die Erwartungshaltung unter der potenziellen Leserschaft nicht zu sehr zu strapazieren, vergebe ich nur drei von fünf möglichen Sternen. Den vierten behalte ich wegen der Erfüllung meiner persönlichen Vorlieben für mich. (Ach ja, ich bedanke mich übrigens bei Jaume Cabré ganz besonders für die prominente Unterbringung meines Lieblingsvornamens: „Oriol“ hat auch noch eine zoologische Bedeutung, im Deutschen ist er ein Pirol.)

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