W wie Weintraube

Mascha

Mascha setzte die Flasche an die Lippen, legte den Kopf in den Nacken und ließ den Weißwein ohne zu schlucken durch Kehle und Speiseröhre in den Magen laufen. Die Flüssigkeit war lauwarm und verbreitete sofort ein angenehmes Kribbeln in ihrem Bauch. Die junge Frau hatte das allerbeste Stadium des Alkoholrausches erreicht, wie sie selbst fand:
Ihr Gehirn war wie in Zuckerwatte gepackt, die Füße kribbelten und begannen bereits taub zu werden. In Maschas Bauch brannte ein Lagerfeuer auf kleiner Flamme und in ihrer Pflaume spürte sie ein angenehmes, aufforderndes Ziehen.
Sie war erst auf halber Strecke zu dem Punkt, ab dem ihr ganzer Körper gefühllos werden und die Gedanken nur mehr ziellos um irgendeinen abgedrehten Fixpunkt rotieren würden – bis zum Ausknipsen des Lichtschalters im Kopf. Noch konnte sie ihr Denken steuern. Und die unkontrollierbaren Angstzustände waren endlich ausgeblendet. Sie fühlte sich wundervoll entspannt, so wie sie am liebsten immer sein wollte.

Andere Menschen, die sich in einem vergleichbaren Rauschzustand befinden, stellen in dieser Phase verrückte Dinge an. Betrunkene Männer drangsalieren unbekannte Frauen, die zufällig zur Hand sind, besoffene Helden klettern auf Wirtshaustische oder fangen wegen Nichtigkeiten brachialen Streit an. – Mascha hingegen betrank sich am liebsten in ihrer Wohnung. Ohne Publikum. Alleine mit sich und mit ihren Gedanken.

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Vor drei Jahren war Mascha aus der Ukraine über die Slowakei, Tschechien und Polen nach Deutschland gekommen. Müde der Aussichtslosigkeit und der Männerklüngel an allen Ecken und Enden ihrer Heimat hatte sie einen tiefen Schnitt vollzogen. Ihren Mann und Vater ihrer beiden Töchter hatte sie längst abgeschrieben. Boris soff sich durch die Tage und erwartete, dass Mascha für den Unterhalt der Familie aufkam. Mit fünfundzwanzig Jahren erkannte die junge Frau, dass sie niemals in ihrem Traumberuf als Lektorin in Kiew ankommen würde, sondern als Näherin oder Tagelöhnerin in der Provinz ein spärliches Auskommen finden musste; oder aber als Nutte im nahe gelegenen Charkow die Trunksucht ihres Mannes finanzieren. – Gut genug für Charkow sah sie aus, die Mascha: blond, eine dicke Zuckerschnute, fester Hintern und weiche, schwere Brüste, wie sie die Russen in der grenznahen Universitätsstadt liebten. Eine Frau zum Anfassen. Boris hatte schon mehrmals ernsthaft gefordert, sie solle sich an der Uni einschreiben und einen oder zwei solvente Liebhaber suchen.

Aber Mascha hatte schließlich den radikalsten aller Schritte gewagt. Ihre beiden Mädchen hatte sie schweren Herzens bei einer Tante im Nachbarort untergebracht, einen Koffer gepackt und sich auf den Weg in den Goldenen Westen gemacht. In Deutschland, so hieß es, konnte jeder Geld verdienen, der sich nur traute anzupacken.

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Wehmütig dachte Mascha jetzt an die ersten Monate in Deutschland zurück. Sie nahm zwei, drei weitere tiefe Schlucke aus der Weinflasche. Das Wattegefühl in ihrem Kopf verstärkte sich, und sie schob die Finger der freien Linken unter das Kleid in den ausgeleierten Gummizug ihres Slips, um an ihrer Scham herumzuspielen. Sie war spitz aber vom Alkohol längst zu lethargisch, um ernsthaft etwas zur Befriedigung ihrer Lust zu unternehmen.

Nach einer Irrfahrt, die sie durch mehrere deutsche Großstädte geführt hatte, war Mascha zuletzt in Frankfurt am Main gelandet, wo sie Anschluss an eine Gruppe von Aserbaidschanern fand. Die Exilanten besorgten der gut aussehenden, fröhlichen jungen Frau anständig bezahlte Putzstellen in Privatvillen in Kronberg und Königstein, im Speckgürtel der Mainstadt, dort wo die Bankenvorstände wohnten. Mascha verdiente auf einmal so viel Geld, dass sie jeden Monat einen kleinen Stapel Euroscheinchen an die Tante in der Ukraine schicken konnte, mit dem dort die ganze Familie einschließlich ihrer eigenen Töchter ihr Auskommen fand.
Mascha lernte schnell deutsch
, auch wenn sie diese Sprache in ihrer abgehackten Konstruktion stets wie eine Parodie auf nationalpropagandistische Politreden empfand. Ihr Lieblingswort war „Ukraine“ in der deutschen Aussprache. Alle – ob Nachrichtensprecher oder die Leute auf der Straße – hackten Maschas Heimatland sprachlich brutal entzwei: „Ukra … Ihne“ sagten sie. So wie „Beh … Ärr … Deh“. Nationen durften nicht fließen im Deutschen, sie mussten sich klar eingrenzen und in kleine Einzelhäppchen zerteilen lassen. Damit man sie leichter erfassen, falten und in Schubladen stecken konnte.

Aber im Großen und Ganzen mochte Mascha Deutschland. Und vielleicht wäre sie irgendwann einmal selbst Deutsche geworden, wenn sie nicht eines Tages einen schwer wiegenden Fehler gemacht hätte. Ihre aserbaidschanischen Freunde hatten Mascha während eines Trinkgelages Insider-Informationen über die Haushalte abgeluchst, in denen sie putzte. Als ein paar Tage später einer der Männer bei einem Einbruch in eine Kronberger Bankiers-Villa festgenommen wurde, fiel der Verdacht der Komplizenschaft sofort auf die Putzhilfe aus dem Osten; zwischen Aserbaidschanern, Ukrainern und Russen machten die Deutschen keinen Unterschied. So landete Mascha ehe sie sich versah in Untersuchungshaft in der „Jott-Vau-Ah“ Frankfurt Preungesheim.

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Die Flasche war leer. Mascha erhob sich vom Küchenstuhl und tappte unsicher wankend zu dem Schränkchen, in dem ihre Alkoholvorräte verstaut waren. Plötzlich neigte sich der Boden unter ihren Füßen nach links wie auf einem Boot bei schwerer See, sie strauchelte, stolperte und stieß mit der Hüfte wuchtig gegen die Arbeitsplatte unter dem Weinschrank. Doch Mascha spürte den Schmerz nicht mehr, ihr ganzer Unterkörper war bereits reichlich gefühllos. Sie griff nach einer weiteren Weißweinflasche, entfernte mit tauben Fingern den Drehverschluss und nahm mit dem Rücken gegen den Kühlschrank gelehnt im Stehen den ersten, langen Zug aus der neuen Flasche.

Am liebsten soff Mascha den Angebotswein aus dem Billigregal bei Tengelmann um die Ecke. Wenn sie sich mittags ein paar Kartoffeln mit Spiegelei in der Pfanne briet, fing sie mit der ersten Flasche des Tages an. Da schmeckte der Wein noch ekelhaft, die ersten Schlucke hatten den Geschmack von Reisessig mit Süßstoff. Abends, wenn Mascha mit der zweiten oder dritten Flasche zu Gange war, interessierte sie der Geschmack nicht mehr. Sie betrank sich zielgerichtet, mit der Effizienz einer professionellen Alkoholikerin.
An diesem Tag war Mascha jedoch wie so oft über das Tagesziel hinausgeschossen. Das warme Kerngefühl war einer Taubheit des ganzen Körpers gewichen, ihre sexuelle Erregung restlos dahin. Sie lachte kehlig, krächzend, fast stimmlos und wusste selbst nicht so genau, ob das wirklich ein Lachen oder eher ein Schluchzen war. Sie lachte oder weinte über sich selbst; was für eine einfältige, dumme Kuh sie doch war!

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Das erste Gespräch im Vernehmungsraum der JVA mit dem Staatsanwalt und einer Pflichtverteidigerin war kurz und schmerzlos gewesen. Im Protokoll der Staatsanwaltschaft stand danach zu lesen: „Die Tatverdächtige kooperierte vollumfänglich und trug maßgeblich zur Aufklärung der Tathintergründe bei.“
Ein Woche später wurde das Ermittlungsverfahren gegen Mascha sang- und klanglos eingestellt und ihre nicht vorhandene Aufenthaltsgenehmigung nicht hinterfragt. Sie war auf freiem Fuß. Im Gegenzug war die gesamte Aserbaidschaner-Clique in den Knast eingefahren. Die Staatsanwaltschaft hatte Prioritäten gesetzt.

Sie war also gerade noch einmal davon gekommen und sofort untergetaucht im Gewirr der Halbwelt zwischen Banken- und Bahnhofsviertel der Mainmetropole, eine Gestalt mehr unter den vielen Gestrandeten in der Stadt.

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Bei der Erinnerung an ihre Begegnung mit der Staatsmacht verzog Mascha angewidert den Mund und spülte die unangenehmen Gedanken mit einem Schluck aus der Weinflasche hinunter. Ihr Hinterteil hing gerade noch an der Vorderkante des Stuhls, mit dem Oberkörper lag sie auf der schmutzigen Platte des Küchentisches. Nur zum Ansetzen der Flasche richtete sich Mascha immer wieder kurz auf. Auf einmal rutschte ihr Hintern von der Stuhlkante, sie glitt vom Tisch; ihr Kinn knallte hart gegen die Platte, als Mascha zu Boden fiel.
Mühsam richtete sie sich wieder auf, zog sich an der Tischkante hoch und kam zitternd auf die Beine. – Wenn ihre Töchter sie so sehen würden; zu besoffen zum Sitzen! Beißende Scham schnürte Mascha die Kehle zu, oder war das Selbstmitleid? Tränen stiegen ihr in die Augen.

Den Kontakt zu ihrer Familie in der Ukraine hatte sie längst aufgegeben. Nach ihrer Verhaftung hatte Mascha ihre Arbeit als Putzfrau verloren. Es gab kein Geld mehr, das sie nach Hause hätte schicken können. Andererseits schämte sie sich zu sehr über das, was sie geschehen hatte lassen, als dass sie den Weg zurück in den Osten gehen hätte können.

Also hatte sie zunächst in den Rotlicht-Kneipen des Bahnhofsviertels am Tresen gesessen und auf Besucher gewartet, die ihr ein Getränk ausgaben. Dafür bekam sie von den Wirten eine Provision, die ausreichte, ihre schäbige aber billige Unterkunft unter dem Dach einer heruntergekommenen Pension und dazu ein paar Nahrungsmittel zu bezahlen.
Als der eine oder andere Gast Mascha einen kleinen Geldschein zusteckte, wenn sie ihn am Bartresen die Hand auf ihre Schenkel legen oder ihre Pin-up-Titten befummeln ließ, war sie auf den Geschmack gekommen. Denn letztlich war sie selbst genau so einsam wie ihre Besucher und sehnte sich nach Zuwendung, nach Berührung. Nach Menschen.

In einigen der Bars gab es Hinterzimmer oder sogar Séparées, in die sich Mascha mit Kunden zurückzog, die ihr sympathisch genug waren für flüchtige sexuelle Begegnungen. Zu Beginn dieser Zeit war Mascha sehr wählerisch, sie stieg nicht mit jedem ins Bett und gab sich manchmal während der Rammelei sogar der Illusion hin, der nette Freier würde die ukrainische Prinzessin erlösen und sie zu sich nach Hause mitnehmen. – Nach Hause …
Doch mit zunehmender Erfahrung stumpfte sie ab.
Irgendwann ließ Mascha jeden ran, der bezahlte. Sie begann damit, möglichen Kunden aggressiv in den Schritt zu greifen, um den Kerlen klar zu machen, um was es ging. Sie ließ sich für einen Fünfziger auf Toiletten im Stehen von hinten vögeln und gegen Mengenrabatt von zwei oder drei Männern nacheinander in düsteren Kellerabgängen wundficken.

Damals hatte sie mit dem Trinken angefangen, anfangs um sich vor Antritt ihrer Nuttenschichten Mut anzutrinken und den Ekel auszuhalten. Im Laufe der Monate jedoch war der Alkohol immer mehr geworden. Mascha begann damit, zwischen den einzelnen Freiern ihre Einnahmen an den Bartresen für Wein auszugeben. Das führte jedoch irgendwann dazu, dass niemand mehr mit der besoffenen Ghettoschlampe fummeln, geschweige denn gegen Bezahlung bumsen wollte und sie aus den Animierlokalen rausflog.

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Mascha blickte in die spiegelnde Küchenfensterscheibe. Dort saß eine verbrauchte, fette Frau in einem zu engen, verknautschten und fleckigen Kleid, mit strähnigem Haar. Die Frau im Fenster sah aus wie vierzig oder fünfundvierzig, dabei war sie doch gerade einmal zweiunddreißig Jahre alt.

Mascha wusste, dass sie am Ende war. Wie an jedem Abend, an dem sie dieses Stadium der Alkoholisierung erreichte, breitete sich Angst in ihrer Brust aus wie eine kalte Woge bei herannahender Flut. Sie ließ sich vom Stuhl auf die Knie hinab und rutschte auf allen Vieren zum Bett. – Was war bloß eben noch so komisch gewesen? Gerade hatte sie noch daran gedacht: an den besten Witz der Welt. Aber jetzt war er weg! Gelöscht aus ihrem Gedächtnis. Manchmal verschwanden die Gedanken, als hätte sie sie nie gedacht.
Als sie endlich auf dem verdreckten Laken saß, schniefte sie den Rotz hinauf, rieb sich die Tränen aus den verheulten Augen und griff zu der Flasche auf dem Nachtkasten. Mariacron. Weinbrand. Ein-Liter-Flasche. Das war Maschas bewährter Lichtschalter. Sie goss sich den Schnaps in den Mund, er lief ihr in Rinnsalen über das angeschlagene Kinn, am Hals entlang hinunter ins Dekolleté und in die Speckfalten ihres Bauches. – Er wollte ihr einfach nicht mehr einfallen, dieser fantastische Witz! Ewig schade drum.

Mascha kippte nach hinten auf die Matratze, und bevor ihr Bewusstsein ins Nirwana abtauchte, seufzte sie: „UHKRA … inne.“

[lightgrey_box]Das war eine Folge des alphabetischen Obstsalates, Buchstabe W. Bitte seht Euch Barbara Lehners Liste von A bis Z an.[/lightgrey_box]

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3 Kommentare

  1. Mich freut’s, wenn die Geschichte ankommt. Auch wenn sie nicht gefällt. Weil es ist mir schon klar, dass diese Erzählung unmöglich gefallen kann. Und auch gar nicht gefallen will. Es ist halt, wie es ist.

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