Fuchspelz in der S-Bahn

In einer süddeutschen Großstadt besteigt Herr W. einen S-Bahn-Waggon. Es ist später Nachmittag, Herr W. ist sehr guter Dinge und auf dem Weg zu einer Neujahrseinladung. Eine seit Jahrzehnten Verflossene hat ihn zum Abendessen in ihrem Familienkreis eingeladen: Mann, Sohn, sie und Herr W. Das konnte nur entweder interessant oder ein kommunikatives Debakel werden. Mal sehen. Er liebte ja geradezu solche schwierigen Gratwanderungen.
Der S-Bahn-Wagen ist ziemlich gut besetzt, viele Menschen stehen in den Gängen. Nur in einer Vierersitzgruppe sind noch zwei Plätze frei; gegenüber einem Paar, das sich unterhält. Sie in den Vierzigern, das blonde Haar wetterfeucht, ein bisschen schütter, schwarzer Mantel mit Fuchspelzkragen, neben sich einen abgenutzten Rollkoffer; er Afrikaner, noch keine dreißig, Parka, Jeans, Sneakers und Rucksack.
Herr W. setzt sich auf den Platz gegenüber der Dame. Dieser Fuchspelzkragenmantel ist eines der seit langer Zeit aus der Mode gekommenen Modelle, bei denen sich die Schnauze des Tieres, um den Hals der Trägerin gelegt, vorne über ihrer Brust in seinen eigenen Schwanz verbeißt. Der Pelz ist stumpf, struppig, schon ziemlich abgenutzt. Vielleicht ererbt von der Großmutter?, denkt er.

Das Gespräch des Paares verläuft stockend. Schnell wird Herrn W. klar, dass sich die beiden gar nicht kennen. Sie versucht es rudimentär auf englisch: „Wherrre you frrrom?“
„Senegal“, antwortet er.
„Ah, parlez-vous français?“, schwenkt sie um, etwas textsicherer als im Englischen.
„No, español?“, gibt er sehr knapp, irgendwie genervt zurück.
„Komisch, sprechen die da nicht französisch, im Senegal?“ Auf einmal und völlig überraschend wendet sich die Dame an Herrn W. Ihr Blick bohrt sich in seine Augen. „Wo liegt eigentlich der Senegal, wissen Sie das?“

Herr W. schreckt auf. Spricht die Frau mit ihm? Scheinbar doch wohl ja. – „Senegal? Ich glaub in Westafrika, oder nicht?“, beantwortet er die Frage. Er ist sich nicht sicher, gräbt in den bröckeligen Erinnerungen aus seinem Erdkundeunterricht.
„Sprechen die denn dort nicht französisch? Was meinen Sie?“ Die Pelzkrägin bohrt nochmals nach.
„Ich weiß es nicht.“ Herr W. will sich nicht festlegen, hat ein komisches Gefühl, obwohl er eigentlich dazu neigt, der Frau zuzustimmen. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Alle Mitreisenden sehen betont in andere Richtungen, obwohl die Stimme der Frau laut und deutlich ist, den Raum dominiert. Sonst unterhält sich niemand.
Der Afrikaner scheint sich auf einmal nicht mehr einbezogen zu fühlen, gräbt irgendwie erleichtert in seinem Rucksack und zieht ein Paperback heraus. Houellebecq – Soumission, steht auf dem Einband. Französisch!
Simulant, denkt Herr W., und erkennt mit einem Schlag, was los ist und dass gerade in diesem Moment der Afrikaner die Opferrolle dankbar an ihn, den Herrn W., abgegeben hat!

Aber da hat sich die Füchsin schon mit sicherem Instinkt in Herrn W. verbissen. „Wissen Sie, es ist ja eines der furchtbaren Zeichen unserer Zeit, dass die Menschen nicht mehr offen für neue Begegnungen sind. Aber Sie sind ganz anders, das spüre ich. Ihnen kann ich mich offenbaren. Ganz sicher!“
„Ach ja?“ Herr W. ist jetzt ein wenig verzweifelt. Noch fünf Stationen in der Bahn, fast zwanzig Minuten. Wie soll er diese Fahrt mental unbeschadet überstehen? Kurz spielt er mit dem verführerischen Gedanken, einfach zu fliehen, beim nächsten Halt auszusteigen und schnell am Bahnsteig entlang zu laufen, um ein paar Türen weiter hinten wieder in den gleichen Zug einzusteigen, um dieser ihm völlig fremden Grenzüberschreiterin zu entgehen. Aber ein solches Manöver ist unter seiner Würde, findet er und verwirft die Idee.
Der Afrikaner wirft ihm, aus seiner Lektüre auftauchend, einen kurzen, prüfenden Blick zu. Herr W. ist sich sicher, dass der Kerl deutsch versteht. Und es auch spricht. Dieser Pharisäer.
In diesem Moment beschließt Herr W., den Spieß umzudrehen.

„Gnädige Frau, ich bin so froh, Sie hier angetroffen zu haben“, sprudelt er hervor. „Tatsächlich wagt heutzutage kaum einer, die Anonymität einer Bahnfahrt aufzubrechen und eine tiefere Unterhaltung mit einem Fremden zu führen.“
Die Dame blickt ihn einen winzigen Moment lang verunsichert an, damit hat sie nicht gerechnet, und Herr W. nutzt die Gelegenheit, fährt fort. „Hören Sie, Sie sind doch fremd hier. Mit diesem Koffer da, meine ich. Woher kommen Sie denn? Aus dem Senegal doch wahrscheinlich nicht, haha, verzeihen Sie den kleinen Scherz.“
„Wieso fragen Sie?“ Jetzt ist sie es, die in die Defensive gerät.
„Na ja, wenn Sie nicht wissen, wohin heute Abend, das ist doch keine Schande!“ Herr W. trumpft jetzt auf. Er bemerkt, dass nun alle Passagiere in Hörweite ihre Aufmerksamkeit seiner Konversation mit Frau Fuchspelz zuwenden. „Wissen Sie, ich bin gerade auf dem Weg zu einer recht beschaulichen privaten Einladung. Nichts besonderes, wirklich nicht. Aber wenn Sie trotzdem mitkommen möchten? Ich würde mich ehrlich freuen. Und alles andere … das wird sich dann sicher auch noch weisen.“

Die Dame starrt Herrn W. jetzt mit unverhohlenem Alarm im Blick an.
„Bitte halten Sie mich nicht für unverfroren, gnädige Frau“, setzt er bescheiden hinzu. „Aber es passiert doch zu selten, dass sich zwei Seelenverwandte mitten auf offener See begegenen, wenn Sie mir dieses Bild gestatten wollen. Geben Sie sich doch einen Ruck und uns beiden eine Chance. Ich meine: Was alles aus uns zweien werden könnte? Das wissen Sie nicht, und ich auch nicht!“

„Aber …“ Jetzt macht die Fuchspelzin komplett zu. Der Afrikaner grinst breit, so wie auch einige der aufmerksamen Mitfahrer in der Bahn.

„Ach, kommen Sie“, setzt Herr W. zum Fangschuss an und geht ein letztes kleines Risiko ein: „Ich steige die nächste Haltestelle aus, und Sie kommen einfach mal mit. Wir beide sind für einander bestimmt, das fühle ich ganz tief in mir drin!“

~

Als Herr W. aus der Bahn steigt – alleine, denn die Fuchspelz tragende Dame ist wortlos in ihrem Sitz zusammengesunken -, schallt ihm Gelächter der Passagiere hinterher. Durch das Wagenfenster winkte er von draußen der Dame nochmals zu. Sie jedoch starrt zu Boden, beachtet ihn nicht. Aber der Afrikaner winkt Herrn W. mit strahlendem Blick zum Abschied, als die S-Bahn Fahrt zur nächsten Station aufnimmt.

Ich weiß, manchmal kann ich echt ein mieses kleines Schwein sein.

5 Kommentare

    1. Wunderbar? – Im Nachhinein tut sie mir recht leid, die Füchsin, wie sie da im Abteil saß. Einmal hat mir schon gealbträumt von ihr. Wahrscheinlich bin ich doch eher ein Seelchen als ein Schweinchen.

      Aber danke für die Bestärkung.

  1. Manchmal schreibt das Leben in öffentlichen Verkehrsmitteln wunderbare Geschichten.
    (Das erinnert mich an die Story einer Kollegin. Sie berichtete von einem jungen Mann, der sehr, sehr, sehr breitbeinig auf den langen Bank in der U-Bahn saß und partout keine Platz machen wollte – auch auf Nachfrage/Hinweis nicht – damit sich noch jemand neben ihn setzen kann. Er verließ allerdings fluchtartig beim nächsten Stop den Waggon. Warum? Sie hatte sehr, sehr laut ihr Mitleid mit ihm geäußert und wie schlimm es doch sei, wenn so ein junger Mensch unter geschwollenen Hoden leiden müsse. Das Gelächter der Umstehenden war ihr und ihm gewiss.)

    1. Ja ja, in den öffentlichen Verkehrsmitteln kann man Zeuge des ganzen Elends der Menschheit werden. Alle irre.

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