¡Venceremos?

Klapperfeld-Wandbild: Für eine Gesellschaft ohne Knäste (Solikommitee Frankfurt)

Idealismus – insbesondere plakativ zur Schau getragener – fasziniert mich enorm.

Letzthin war ich in Frankfurt am Landgericht unterwegs. Die Generaldirektoren der Fabrik beschlossen nämlich vor geraumer Zeit, dass doch bitte ich die Vertretung unseres Zirkus vor Arbeits-, Amts- und Landgerichten übernehmen soll. Seither verbringe ich unzählige Stunden mit Vorbereitung und Begleitung von Prozessen mit unwilligen Angestellten, Kunden und Lieferanten der Fabrik.
In unmittelbarer Nähe der Konstablerwache fand ich also vergangene Woche dieses Fassadenplakat der Initiative Solikommitee an einem Gebäude gegenüber des Landgerichtes vor. Es stammt aus dem Jahr 2014 und nimmt Bezug auf zwei ehemalige Häftlinge im sogenannten Klapperfeld-Knast. (Folgen Sie dem Link und/oder googeln Sie Hans Schwert oder Andrea Wolf, wenn Sie Details wissen wollen, warum die beiden im Gefängnis am Klapperfeld einsaßen. Ist durchaus interessant!)

„Wir werden keine Ruhe geben, bis wir ohne Knäste leben“. – So skandiert das Solikommittee im Internet. Und ich denke mir: Meine Güte, das wird sicher eine lebenslang ruhelose Zeit für die bedauernswerten Kommitteemitglieder. Die Abschaffung deutscher Justizvollzugsanstalten dürfte noch unwahrscheinlicher sein als die Einführung menschen- und umweltfreundlicher Arbeitsbedingungen im Reich der Mitte. Ich jedenfalls werde mit Sicherheit beides nicht erleben. Und ich habe größte Zweifel, dass meine Kinder und künftigen Enkel in den Genuss solcher Veränderungen kommen werden.

Aber der Mensch braucht ja schließlich Aufgaben, an denen er wachsen kann.

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Bei diesem Stichwort fällt mir sofort mein Schwager ein. Der hat vor ein paar Jahrzehnten, nach seiner Praktikumszeit am Münchener Schlachthof damit begonnen, sich gewichtigen, windmühlenflügeligen Gegnern zu stellen. Damals gründete er eine Bürgerinitiative gegen unwürdige Tierhaltung und brutale Tierschlächterei. – Durchaus applauswürdig, dieses Engagement; aber leider ohne die geringste Erfolgsaussicht. Als der Schwager sein Dilemma erkannte, wandte er sich ernüchtert aber nicht weniger streitbar anderen Protestfeldern zu.
Ich erspare der Leserschaft die mühselige Wanderschaft durch all seine Weltverbesserungsprojekte. Das würde uns alle nur in tiefe Depression stürzen. Im Rahmen seines jüngsten Engagements zieht der Schwager gerade gegen einen bekannten bayerischen Automobilhersteller zu Felde. Denn er hatte – randvoll bis zur Halskrause mit Enthusiasmus – ein Elektromobil käuflich erworben, um fortan dem Pferdefüßigen in Gestalt der Mineralölkonzerne die Stirn zu bieten.
Dies führte im ersten Anlauf dazu, dass ihm sein Wohnungsvermieter kündigte, weil der Schwager sein Elektromobil über ein Ladekabel aus einer für alle Mieter zugänglichen Gemeinschaftssteckdose aus dem Keller heraus mit Energie versorgte.
Während seine Gerichtsklage gegen die Kündigung lief, machte er sich eines Tages auf den elektromobilen Weg aus dem bodenseeischen Allgäu nach München, den sein umweltfreundliches Gefährt leider nicht ohne Nachladen bewältigen konnte. Also verbrachte der Schwager sechs trübe Wartestunden an einer Ladestation einer gottverlassenen Tankstelle auf halbem Wege und ärgerte sich dabei schwarz.
Mittlerweile strengt er also eine Klage gegen den Autokonzern an, um die Rücknahme des Vehikels zu erzwingen. Seine Begründung: Der Konzern hätte wissen müssen, dass der Betrieb eines solchen Elektromobils unter Alltagsbedingungen nicht funktionieren kann. Das sei Betrug.

Nun denn. Ich befürchte, der Schwager wird ein weiteres Mal seine Prozesse und sauer Erspartes verlieren. Aber trotzdem: Auch wenn ich persönlich die Aktionen der Don Quijotes dieser Welt mit einem Kopfschütteln quittiere, wohin kämen wir ohne Idealisten?

16 Kommentare

    1. In der Tat, über Langeweile können sich weder der Schwager noch seine Familie beklagen; auch wenn seine Eltern und Geschwister immer öfter die Hände über den Köpfen zusammenschlagen :-}

  1. Sie haben also am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, den Idealismus ausgegraben. Dazu fällt mir gar nichts ein, dachte ich im ersten Moment. Doch dann erinnerte ich mich an „Heimat, fremde Heimat“, einer ORF-Sendung vom Sonntag. Da kam unter anderem Heini Staudinger zu Wort, der mit viel Idealismus den Traum von der Schuhfabrik in einer der entlegendsten Gegenden Österreichs verwirklichte. Gute Schuhe die auf guten Arbeitsplätzen hergestellt werden. Sein Idealismus hat seit dem Jahr 2008 von 50 auf heute 200 Mitarbeitende aufgestockt.

    Er ist nur ein Beispiel für jene Idealisten, die ich im Lauf der Jahrzehnte kennengelernt habe. Das überrascht mich selbst, wie viele das sind, wenn ich zähle.

    Für eine Gesellschaft ohne Knäste. Ein weit gestecktes Ziel. Aber war es das nicht auch, als Margarethe Steiff ihre Teddybären nähte, Peter Madersberger von Idee einer Nähmaschine getragen war, die die Bewegung der Hände nachhahmte oder wenn Lehrer mit den Kindern wieder anfangen, Schulgärten anzulegen?

    „Für eine Gesellschaft ohne …“ läßt sich gut auch in anderen Kontexten denken. Für eine Gesellschaft ohne Bildungsverrat. Für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung. Für eine Gesellschaft ohne religiöser Bevormundung. Für eine Gesellschaft ohne geschlechtlicher Diskriminierung …

    1. Ganz sicher: Ohne Idealisten wäre die Menschheit nicht da, wo sie ist. Weil die eben bereit sind, mehr zu leisten, härter zu arbeiten als andere; noch einen Extraschritt weiter zu gehen.
      Allerdings, so denke ich, muss auch ein gewisser Realismus gewahrt bleiben. Ich selbst jedenfalls bin nicht bereit, mich aufzureiben, wenn die Erfolgsaussichten winzig sind. Insofern fehlt mir wohl das letzte Quäntchen Idealismus.

  2. Was bedeutet das auf dem Kopf stehende Ausrufezeichen bei „Venceremos“? In letzter Zeit habe ich viel mit Leuten zu tun gehabt, die keine Haltung haben, was mir das Problem einer ganzen Generation zu sein scheint, und mich schier verzweifeln läßt. Wer keine Haltung hat, muss auch keinen Standpunkt verteidigen. Insofern sind mir alle Leute lieber, die sich trauen, zu protestieren oder etwas infrage zu stellen, was andere nur ergeben schlucken. Es kostet freilich Kraft. Früher sprach man vom Bohren dicker Bretter.
    Als Beispiel: Als die ersten Frauenrechtlerinnen Anfang des 20.Jahrhunderts sich aufmachten, konnten sie nicht hoffen, die Gleichberechtigung der Frau in den Industriestaaten zu erleben. Aber andere konnten darauf aufbauen. Wenn man bedenkt, dass noch in den 50ern die Frau die Genehmigung ihres Ehemanns brauchte, wenn sie arbeiten wollte, hat sich dann doch etwas verändert.

    1. Venceremos ist ein politisches Kampflied der spanischsprachigen Welt, ursprünglich aus Chile, wenn ich mich recht erinnere. Ausrufe werden im Spanischen durch ein öffnendes, auf dem Kopf stehendes Ausrufezeichen und ein schließendes, normales Rufezeichen geklammert. Ich habe im Titel das schließende Rufezeichen durch ein Fragezeichen ersetzt, was grammatischen falsch ist. Eigentlich hätte ich ¿Venceremos? schreiben müssen. Die merkwürdige Mischung ¡? soll also ein Stilmittel sein: Beginn als Ausruf, Ende als Frage.

      Und ja, ein Dickbrettbohrer bin ich wohl eher nicht :-}

    2. Danke für die Erläuterung. „Vencerermos“ kannte ich aus den 1968er Jahren natürlich, nur nicht den spanischen Gebrauch der Satzschlusszeichen. ¡Wieder was gelernt!

    1. Wohin wir kämen, weiß ich auch nicht. Aber die Reise dorthin wäre ohne Ideale jedenfalls grau und trübe.

    2. Ihre Antwort lässt mich nachdenken über Ideale und über Werte. Kann ein Ideal auch wertlos sein? Kann eine Werthaltung auch ideenlos sein?

  3. Welcher Sinn in dem Satz von Andrea Wolf stecken soll, »Die einzige Möglichkeit unseren Kampf zu artikulieren ist, ihn zu leben«, dass der auf einem Plakat zitierenswert wäre, kann ich nicht entdecken. Der ist doch eine völlig sinnfreie Wortblase. Oder versteht den irgendwer?

    1. Das habe ich mich auch gefragt. Aber was weiß ich schon, vielleicht gibt es jemanden, der Äpfel essen kann, ohne sie in den Mund zu nehmen und zu kauen.

    2. Ja, mir offenbart sich dieses Wolf-Zitat auch als verschwurbelt, um nicht zu sagen – als etwas wirr. Aber ganz ehrlich: Politischen Aussagen insbesondere aus den End-Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts haftet doch oft dieser Makel an. Man denke nur mal an Herrn Stoibers berüchtigte ministerpräsidentiale Transrapid-Rede ;-}

      (Aber was red‘ ich …)

  4. Lieber Wortmischer,
    ein Idealist, wie Sie ihn beschrieben haben, kann sehr unterhaltsam und kreativ sein.
    Aber ihn in der Familie zu haben, kann für die, die von ihm und seinen Taten „abhängig“ sind, auch anstrengend sein oder gar Angst machen.
    Gruß Heinrich

    1. Sagen wir es mal so: Angst vor dem Schwager hat hier niemand. Aber Sie haben schon recht, denn die Angst um den Schwager geht durchaus um. Denn allzu viele Enttäuschungen in Dauerschleife verkraften nur wenige ohne psychische Schäden. Wer kann schon gut mit immerwährender Erfolglosigkeit umgehen …

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