Lucy In The Sky With Diamonds

Picture yourself in a boat on a river
with tangerin trees and marmalade skies

Das Wetter war derartig beschissen an diesem Dezembernachmittag im Jahr 1979, dass ich erst gar nicht auf die Idee kam, auf dem Sportplatz herumzuhängen und auf die anderen Jungs zu warten, um ein bisschen zu kicken und blöde Sprüche zu klopfen über die Todesfälle beim Who-Konzert in den USA. Ich schlich ziellos zwischen den Häuserblöcken entlang und wäre froh gewesen, mir eine Kapuze über den Kopf ziehen zu können, um den Schneeregen abzuhalten. So wie das die Jungs heute, dreißig Jahre später machen würden. Aber damals gab es noch keine Hoodies. Wir hatten ja nichts.

Aus Langeweile – und weil mir der durchnässte Pilzkopf kalt wurde – schellte ich bei Ali. Ali war immer zu Hause. Weil seine Alten nie zu Hause waren. Und weil er nicht Fußball spielte wie wir anderen Jungs. Ali hatte definitiv nur zwei Hobbys: Musikhören und Experimentieren mit bewusstseinserweiternden Substanzen. Sowohl Musik als auch Substanzen bekam er von seinem älteren Bruder zugesteckt, der in einer Schwabinger Bar jobbte. Dank seinem Bruder hatte Ali immer irgendwas auf der Tasche oder auf dem Plattenteller.

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Laut Taufschein hieß Ali eigentlich Albrecht. Aber wer in den Siebzigern die Stones überlebt hatte und nun Pink Floyd und Frank Zappa hörte, wurde damals auf gar keinen Fall „Albrecht“ gerufen. Deshalb hieß er bei uns Ali, auch wenn es damals noch gar keine zweite Türkengeneration in unserem Alter gab. Wahrscheinlich verdankte Ali seinem Namen der Räuberpistole aus 1001 Nacht.

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Ich wollte mal sehen, ob Ali vielleicht schon die neue Pink Floyd rangeschafft hatte, und stieg in triefenden Klamotten und Haarschopf hinauf in die achte Etage.
The Wall hatte Ali noch nicht aufgetrieben, wie sich herausstellte; aber immerhin die neue Scheibe von Manfred Mann’s Earth Band, die ein paar Monate zuvor herausgekommen war und jetzt endlich auch uns im Krautland erreichte: Angel Station. Und diese Engels-Haltestelle hatte es durchaus in sich. Ich saß auf Alis Kunstledersofa in seinem Zimmer, das eigentlich eher als Mülldeponie durchgehen hätte können, trocknete vor mich hin und wippte mit Fersen und Fußspitzen zum treibenden Rhythmus der manfredschen Scheibe.

Mit der Londoner U-Bahnstation Angel hatte das Mann-Album wohl nicht viel zu tun, eher mit Vampiren, wenn es nach dem Plattencover ging. Der fette Bass ließ mir das Zwerchfell vibrieren und als Ali mir eine bunte Löschblattmarke rüberreichte, fragte ich nicht erst lang nach, sondern legte mir das Papierchen unter die Zunge.

Der tuckernde Elektrobasslauf in Angels At My Gate zupfte an meinen Nerven, und der Beginn des zweiten Plattendurchlaufs von Angel Station tauchte das Zimmer auf einmal in zarte Pastelltöne. Überhaupt war Alis Bude auf einmal gar nicht mehr das unaufgeräumte Loch von vorhin, sondern ein eher karg eingerichtetes, oder soll ich sagen: leer gefegtes Zimmerchen, dessen Wände in grün, gelb und rot pulsierten.
Zum Klang von Manfred Manns Musik dehnten sich die Raumecken, als ob ein Riese von außen daran zupfen würde. Natürlich war mir klar, dass das alles gar nicht wirklich passierte. Aber es war ein tolles Gefühl, berauschendes Glück, in diesem sich verzerrenden, verwindenden Zimmer zu sitzen.

Boom! – Auf einmal saß ich nicht mehr in Alis Zimmer, ich saß überhaupt nirgendwo mehr. Der Raum, den ich zu sehen glaubte, war auf einmal in meinem eigenen Kopf. Und der Riese zupfte jetzt nicht mehr an den Wänden sondern an den Windungen meiner grauen Masse. Nur dass die überhaupt nicht grau war, sondern pastellfarben.
Na ja, okay, das Pastellige war inzwischen etwas greller geworden; und der Raum in meinem Kopf hatte vom dauernden Zupfen und Zerren des Riesen ein paar Sprünge bekommen. Ich musste lachen, und von meinen eigenen Atemstößen wurden die Sprünge in den Zimmerwänden größer und länger. Und urplötzlich, ehe ich mich versah, zersprang der Raum in meinem Kopf in tausend Fetzen und ich stürzte in den Abgrund. Mein Ich fiel durch eine knallbunte, wabernde Welt aus Mustern und Formen in die Tiefe, unaufhaltsam, scheinbar endlos – bevor ich es ein paar Stunden später sauber zusammengefaltet auf Alis Kunstledersofa wiederfand.

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Laimer Brösel

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5 Kommentare

  1. Auch der zweite Teil gefällt mir sehr gut. Mein erster LSD-Rausch endete in einem Horror mit Messern und der Freiheitsstatue.
    Du hast mich auf die Idee gebracht Manfred Mann zu hören. Höre gerade das Album „Watch“. Danke

    1. Gern geschehen. Und ja: LSD-Trips sind kaum vorhersehbar. Hängt wohl viel von der persönlichen Befindlichkeit ab, glaub ich. (Hab ich aber schon viele Jahre hinter mir.)

    1. So geht es uns vermutlich allen. Ich bin auch längst nicht mehr so rausch-fest wie früher.

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