Wish You Were Here

Kommt mit mir auf eine kurze Reise in die Vergangenheit. In eine Zeit als wir unser Geld für Vinylschallplatten und für Partys ausgaben und noch keine Sorgen kannten.

Wish You Were Here

Am liebsten trafen wir uns damals, spät in den Siebzigern, an den Wochenenden bei unserem Kumpel Strösel. Und zwar – so verrückt das auch klingen mag – wegen seiner Eltern. Die hatten nämlich im Keller einen sagenhaften Partyraum eingerichtet; mit Bar, Kuschelsofas, einer HiFi-Anlage und sogar einer Diskokugel an der Decke.
Außerdem hatten sie absolut keinen Schimmer davon, was wir dort unten trieben. Sie ließen uns in Ruhe, denn sie waren ja so froh, dass ihr einziger Junge Freunde hatte!

Und was für Freunde! Unsere Schultern waren damals halb so breit wie heute, aber unsere Frisuren waren die Wucht: aufgedonnerte Kunstwerke, irgendwo zwischen Stones und Frank Zappa. Außerdem trugen wir Schlaghosen aus Kordstoff, die – weil immer zu kurz – mit Bordürestreifen verlängert worden waren.
Die Jungs nähten sich ihre Hemden mit den weit ausladenden Krägen selbst mit Nadel und Faden hauteng auf Taille. Mädchen unterschieden sich von uns beim ersten Hinsehen hauptsächlich durch ihre wallenden Blusen. Sonst hätten Strösels Eltern wahrscheinlich Schwierigkeiten gehabt, Männlein und Weiblein auseinander zu halten.

Die Ströselfamilie stellte immer Fanta, Cola, Chips und Flips, den Rest klauten wir uns aus den Getränkekellern der anderen Eltern zusammen. Der eine ’ne Flasche Henkel Trocken, zwei oder drei andere jeweils ein paar Flaschen Bier. Wenn es gut lief, hatte auch mal jemand Mariacron dabei. Und der schweigsame Ali hatte ab und an ein paar Krümel Gras von seinem älteren Bruder auf der Tasche.
Alle Jungs schleppten außerdem ihre Neuerwerbungen auf Vinyl in großen Jutebeuteln an.

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Und auf einer dieser Ströselpartys lief eine Scheibe von Pink Floyd in Dauerschleife. Die Pärchen waren auf der Tanzfläche ineinander verhakt, die Singlejungs machten sich währenddessen über die Alkoholvorräte her.
Shine On You Crazy Diamond, alle drei oder vier Teile, wir klammerten, was das Zeug hielt …

Irgendjemand hatte eine Unbekannte zu dieser Wochenendparty bei Strösel mitgeschleppt. Sie war fast so groß wie ich selbst, hatte eine wilde Mähne, die ihr bis zur Mitte des Rückens hinabreichte, und eine Macke an einem ihrer Schneidezähne. Sie hieß Ingrid, und ihre Augen strahlten wie Sterne. Ich strahlte zurück, so gut ich konnte.

Es kam, wie es kommen musste, unvermeidbar: Ingrid und ich leuchteten wie zwei Supernovas, keines der anderen matten Sternchen kam auf die Idee, sich unseren Kreisbahnen in den Weg zu stellen, bis wir wie aus dem Orbit geratene, glitzernde Crazy Diamonds unter der Diskokugel miteinander verschmolzen.
Bei Wish You Were Here, dem Titelsong der Pink-Floyd-LP, küsste ich Ingrid zum ersten Mal. Sie schmeckte nach Wrigley’s Spearmint Gum und roch nach Pfirsich. Ich war hin und weg.

~

Um Mitternacht wurden alle Mädels von ihren Vätern abgeholt. Brav. Die verlassenen Möchtegern-Liebhaber sanken in die Sofas, voll Weltschmerz und zur Linderung der seelischen Beschwerden nun auch mit einer Bierflasche in der Hand. Pink Floyd lief auf dem Plattenteller weiter, und zu guter Letzt sozialisierte Ali sein Depot und ließ eine Tüte kreisen.

Ich flezte auf dem Sofa, die Pupillen groß wie Untertassen, das Herz weit vor Sehnsucht nach meiner frisch gebackenen Freundin. Irgendwann – war es nach der fünften Wiederholung der Scheibe? – ging die Lampe in meinem Kopf aus: Wish you were here …

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