Der Gefallen

Der Gefallen

„Kannst Du mir einen kleinen Gefallen tun?“ – Es sollte jedem klar sein, der diese Frage gestellt bekommt, dass der Gefallen, um den es geht, nicht so klein ist, wie er in der Frage wirkt. Meistens geht es um etwas Unangenehmes, von dem man besser die Finger lässt. Aber trotzdem sagt man Ja, weil man nicht lange herumdiskutieren oder gar als unfreundlicher Mensch gelten möchte.

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„Kannst Du mir einen kleinen Gefallen tun?“, sagte die Arbeitskollegin beiläufig, als wir nach Feierabend auf dem Weg zum Bus in der Eingangshalle nebeneinander her liefen. „Es ist nämlich so, dass heute Abend meine Tante aus Chemnitz auf Besuch kommt.“
Ich sah die Kollegin verständnislos an, und so schob sie eine Erklärung nach:
„Meine Tante gehört einer Generation an, die andere Wertvorstellungen hat als unsere. Seit dem Tod meiner Mutter ist sie hinter mir her, warum ich noch nicht verheiratet sei, ob ich noch immer keinen Freund hätte, das sei doch nicht normal in meinem Alter … tadi, tada, Kokolores. Heute Abend wollte sie einen Neffen mitbringen, also eigentlich einen Neffen ihres verstorbenen Mannes, gentechnisch gesehen kein Cousin. Aber weil ich überhaupt keinen Bock auf diesen Neffen habe, habe ich der Tante erzählt, ich hätte jetzt einen Freund. Was aber nicht stimmt.“

Langsam dämmerte mir, worum es ging. Die Kollegin hatte keinen Freund, musste aber einen präsentieren, um Ruhe vor der Tante zu haben. – „Deshalb wollte ich Dich fragen, ob es Dir etwas ausmachen würde, heute Abend zum Essen zu kommen und Dich als mein Freund vorzustellen.“

Ich selbst hatte ja durchaus eine Freundin. Deshalb war mir gar nicht wohl beim Gedanken an das Schauspielabendessen. „Na, komm schon, sag ja. Es ist doch nur für ein paar Stunden.“
„Na gut“, seufzte ich, „weil Du es bist.“ Schließlich war meine Freundin heute Abend ohnehin auf einer Familienfeier und würde nichts von dem kleinen Gefallen erfahren.
Also präsentierte ich mich um Punkt sieben im Anzug und mit einem Blumensträußchen für meine Arbeitskollegin beziehungsweise Bühnenfreundin an der angegebenen Adresse. Ich küsste die Kollegin auf die Wange und begrüßte die Tante mit einem angedeuteten Diener, bevor ich ihr die Hand reichte. Misstrauisch nahm mich die alte Dame in Augenschein.

Das gesamte Abendessen hindurch hielt die Tante einen Monolog über die jungen Leute von heute, über deren schlechte Erziehung, ihren fehlenden Familiensinn, die Respektlosigkeit vor der älteren Generation. Unverfrorene Freizügigkeit in Kleidungsfragen störte die Dame ebenso wie nächtliches Feiern, Trinken, Rauchen. Ihr Mann habe sie immer auf Händen getragen und das erwarte sie auch vom Zukünftigen ihrer Nichte.
Mit Mühe hielt ich den Abend durch, und als sich die Tante endlich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, nahm ich Reißaus ohne mich von der Kollegin zu verabschieden. Was für ein Albtraum!

Als ich am nächsten Vormittag im Büro der Kollegin über den Weg lief, entschuldigte sie sich für den Vortrag der Tante. „Seit ihr Mann tot ist, wird sie wunderlich und niemand kann es ihr recht machen.“ Außerdem sei die Tante sehr enttäuscht gewesen, dass ich am Morgen nicht beim Frühstück dabei war.
„Mein Tante hat ganz klare Vorstellungen von Familienleben. Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Ich habe ihr gesagt, Du hättest besonders früh weg müssen zu einer Konferenz.“
„Wie bitte? Du hast ihr gesagt, wir würden zusammen wohnen?“
„Na ja, meine Tante würde es nicht verstehen, wenn wir getrennte Wohnungen hätten. Entweder Du bist mein Freund oder Du bist es nicht. Aber Du kannst Deinen Fehler wiedergutmachen, wenn Du Dich bei Tante heute Abend entschuldigst.“
„Heute Abend? Kommt nicht in Frage. Einen kleinen Gefallen, hast Du gesagt. Mehr nicht!“

An diesem Abend hielt die Tante keinen allgemeingültigen Monolog sondern mir einen Vortrag über richtiges Verhalten in der Familie: „Wir nehmen alle Mahlzeiten gemeinsam ein, Frühstück und Abendessen zu Hause. Mittagessen unter der Woche in der Firmenkantine. Ich komme Euch dort besuchen. Es gibt keine Ausnahmen von dieser Regel. Keine Konferenz kann so wichtig sein, dass man sie dem Familienwohle zuliebe nicht verschieben kann. Ich erwarte also morgen Deine Anwesenheit am Frühstückstisch.“
Nachdem sich die alte Dame wieder zurückgezogen hatte, flüsterte ich der Kollegin erregt zu: „Das geht doch nicht. Wie stellt sie sich das vor? Ich muss doch nach Hause, duschen, umziehen.“
„Das geht schon. Ich habe ein paar Unterhosen und Hemden besorgt. Die kannst Du anziehen.“
Um die Tirade der Tante ertragen zu können, hatte ich zum Essen ein paar Gläser Wein zu viel getrunken und war ganz froh über die Aussicht, dem nächtlichen Heimweg entgehen zu können. Wozu also groß Aufhebens machen?

„Wann kommst Du heute Abend?“ Die Frage meiner Bühnenfreundin und Kollegin im Kopierraum der Firma traf mich unvorbereitet.
„Wieso heute Abend? Wer hat das denn gesagt? Wie lange soll denn der Besuch Deiner Tante noch dauern? Einen Abend habe ich Dir zugesagt. Daraus sind ohnehin schon zwei geworden und eine Nacht und ein Frühstück.“
„Aber ich habe Dir doch gesagt, dass meine Tante jetzt bei mir lebt. Alleine in einer Wohnung in Chemnitz kommt sie nicht mehr zurecht. Und für ein Altersheim hat sie kein Geld. Das musst Du doch verstehen, dass ich als nächste Verwandte sie bei mir aufnehmen muss. Du weißt doch, wie stark der Gemeinschaftssinn in unserer Familie ist!“
„Ja, das weiß ich. Aber was ich damit zu schaffen habe, das weiß ich nicht. Und dass sie jetzt bei Dir lebt, davon höre ich zum ersten Mal. Heute Abend komme ich noch einmal zu Euch, dann sagst Du Deiner Tante Bescheid, wie es um uns steht; genauergesagt, wie es nicht um uns steht.“

Als an diesem Abend der Redefluss der Tante durch einen großzügigen Schluck Wein unterbrochen wurde, nutzte meine Kollegin die Pause und setzte zu einer Erklärung an: „Weißt Du, Tante, ich muss Dir etwas sagen. Also wir beide müssen Dir etwas sagen.“
„Ach, Kindchen!“ Die Tante strahlte mit einem breiten Lächeln von einem Ohr zum anderen. „Dass ich das noch erleben darf. Ich wünsche Euch beiden von Herzen alles Gute. Ich freue mich für Euch, und natürlich werde ich Euch unterstützen so gut ich kann.“
Die Alte schloss auch mich in ihre Arme, und vor Schreck und auch ein bisschen aus Angst wagte ich nicht, ihr zu widersprechen und die Sache richtig zu stellen.

Nachdem wir die Verlobung mit Sekt begossen und mit einem Gläschen Kognak besiegelt hatten, die Tante in ihr Zimmerchen gehumpelt war, zog mich die Kollegin ungeduldig am Arm in ihr Schlafzimmer. „Als Du vorhin auf der Toilette warst, hat mir die Tante erlaubt, dass wir jetzt natürlich ganz offiziell wie Mann und Frau … Also, Du verstehst schon?“
Tatsächlich verstand ich schon. Und weil ich von Wein, Sekt und Kognak beseelt war, nahm ich das Angebot der Kollegin erst in Augenschein und dann an. Zwar war sie im Gegensatz zu meiner wirklichen Freundin ziemlich flachbrüstig und hatte einen dicken Hintern, aber dieses Manko machte sie durch enorme Einsatzfreude wett.

Das Verhältnis zu meiner Freundin war merklich abgekühlt, nachdem ich sie eine ganze Woche lang versetzt hatte. Zuletzt hatte sie mich durchs Telefon angekreischt, dass ich die gemeinsame Wohnungssuche vergessen könne.

Der Streit mit meiner Freundin erleichterte meine Situation ungemein, da ich die nächsten Tage und Nächte bei Tante und Nichte verbringen konnte, ohne Ausflüchte ersinnen zu müssen. Insbesondere die Nächte mit der Nichte waren fabelhaft, so dass ich die Tagesmonologe der Tante ohne Widerspruch ertrug. Wenn man es genau betrachtete, hatte die Entschiedenheit der alten Dame durchaus auch gute Seiten. So nahm sie uns vollständig die Organisation unserer Hochzeitsfeier ab, und auch als der Reihe nach die Kinder kamen, übernahm sie jedes Mal das Ruder der Familie, bestimmte die Taufpaten und die Vornamen der Kinder, über die die Kollegin und ich uns ohnehin wahrscheinlich nur zerstritten hätten.

Die Tante nahm auch unser Arbeitsleben in die Hand, diktierte dem Chef der Firma eine Gehaltserhöhung für ihre Nichte und besorgte eine neue, besser bezahlte Stelle für mich. So gingen die Jahre ins Land, bis wir eines Tages erschrocken wahrnahmen, dass die Tante nicht ewig leben würde. Sie wurde zunehmend vergesslich und es kam vor, dass sie uns nicht mehr erkannte. Auch verbrachte sie immer häufiger ganze Tage im Bett.

Eines Abends schließlich, als ich von der Arbeit nach Hause kam, standen zwei Reisekoffer gepackt im Hausflur. „Was ist passiert?“, hauchte ich erschrocken.
„Die Tante ist gestern Nacht gestorben. Als ich ihr heute Morgen das Frühstück ans Bett brachte, hat sie nicht mehr geatmet.“

„Und die Koffer? Was ist in den Koffern?“
„Ich wollte mich sehr herzlich bei Dir bedanken.“
„Wie meinst Du das?“
„Na, Du hast Deine Sache gut gemacht. Sehr gut!“

„Ich versteh nicht …“
„Sehr, sehr gut warst Du. Aber ich wusste ja, dass Du mir diesen Gefallen tun würdest.“
„Welchen Gefallen denn? Von welchem Gefallen sprichst Du?“
„Na, Du hast für meine Tante meinen Freund gespielt. Das hast Du ganz hervorragend gemacht.“

Die Kollegin nahm einen Koffer und drückte ihn mir in die Linke. Ich war perplex: „Du kannst mich doch jetzt nicht vor die Tür setzen! Was sollen denn die Kinder dazu sagen.“
„So klein sind die Kinder ja nun auch nicht mehr. Sie werden das schon verstehen, dass Du nur zum Schein meinen Freund und ihren Papa gespielt hast. Mach Dir keine Sorgen, das erkläre ich ihnen schon. Du warst echt toll!“

Sie drückte mir den Griff des zweiten Koffers in die Rechte. „Wirklich ganz groß! Ich schulde Dir einen.“

„Aber …“

„Klasse, richtig extraklasse!“ – Die Kollegin schob mich aus der Tür hinaus ins Treppenhaus. „Auch im Bett“, rief sie mir nach, bevor sie die Türe ins Schloss zog.

Als ich mit den beiden Koffern im Fahrstuhl nach unten fuhr, dachte ich, dass ich es mir beim nächsten Mal wirklich gut überlegen musste, wenn mich wieder einmal jemand um einen kleinen Gefallen bitten würde.

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(Das oben gezeigte Foto stammt mit freundlicher Genehmigung von SPNR.)

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