Der Versuch, Menschen von gesundheitsgefährdenden Praktiken abzuhalten, indem man ihnen die Gefahren gebetsmühlenartig in der Wiederholungsschleife ins Gehirn hämmert, ist selten erfolgreich. Viel eher macht man sie dadurch erst recht neugierig. Es geht auch anders: Mein betagter Vater erzählt immer wieder gerne die Schnurre, als er zu seinem siebzehnten Geburtstag von seinem eigenen Herrn Papa in die Kneipe geschleppt und dort mit einer dicken Zigarre und zwei Gläsern Weinbrand ins Erwachsenendasein eingeführt wurde. Geraucht oder Hochprozentiges getrunken hat er hinterher nie wieder.
Mir ist eine gewissermaßen ähnliche Grenzerfahrung im Gedächtnis haften geblieben; eine Gratwanderung unter medizinischer Aufsicht, die inzwischen gut dreißig Jahre zurückliegt.
Zu meinen Studienzeiten hatte ich zwei, drei gute Freunde, die an der Münchener Ludwigs-Maximilian-Universität Juristerei studierten, während ich ein paar Kilometer weiter den Geheimnissen von Bits und Bytes auf der Spur war. Bei den Juristen war es damals Usus, nach dem Bestehen des ersten Staatsexamens abzufragen, wer denn eine Laufbahn als Staatsbediensteter anstrebte, also als Richter oder Staatsanwalt. Diesen Studenten legte man nahe, eine unschätzbare Erfahrung für die künftige Praxis an Gerichten zu sammeln, indem sie sich dem „Alkotest“ unterzogen.
Dieser Test bestand im gezielten Ansaufen eines vorher bestimmten Alkoholpegels, um den Kandidaten am eigenen Leibe vor Augen zu führen, wen sie da künftig mit ein oder zwei Promille im Blut anklagen oder verurteilen würden. Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man 1,3 Promill Alkohol im Blut hat?
An einem Freitagmittag schleiften mich meine Juristenfreunde mit ins Institut für Rechtsmedizin in der Nussbaumstraße. Dort wurden wir medizinisch untersucht – Gewicht, Blutdruck, Puls, Krankengeschichte – und nach unserem Zielalkoholwert befragt. Ich entschied mich für 0,8 Promille, da dieser Wert damals als Grenzwert für Alkoholfahrten galt.
Die Formel, in die Geschlecht, Alter, Gewicht und was-weiß-ich-noch eingingen, lieferte für mich „vier Halbe“. Ich musste also in den nächsten sechzig Minuten zwei Liter Bier trinken. Demjenigen, der diese Menge nicht regelmäßig konsumiert, sei versichert: Es ist beinhart, mittags nach nur kleinem Frühstück innerhalb einer Stunde vier große Gläser Bier ohne solides Begleitmaterial in sich hineinzuschütten.
Danach saßen wir zur notwendigen Anflutung des Alkohols im Blut weitere 45 Minuten auf den Institutsbänken herum. Wir registrierten gegenseitig unsere Ausfallserscheinungen, lachten viel und krakeelten herum. Was Menschen in diesem Zustand eben so machen. Danach wurde uns Blut abgenommen.
Um das Gesicht zu wahren, verzichte ich auf die Schilderung von Vorfällen vor, während und nach der Blutabnahme, auch wenn ich die Lesefreude dadurch wahrscheinlich enorm steigern könnte. Auch schweige ich gnädig zum weiteren Verlauf jenes angebrochenen Nachmittages. Allerdings komme ich nicht umhin, nachträglich den Mitarbeiterinnen und Ärzten des Instituts höchste Anerkennung zu zollen. Ähnliche Geduld bringen wohl nur Zoowärter auf, die eine Horde Affen nach dem Verzehr vergorener Früchte hüten müssen. Oder Kindergärtnerinnen.
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Eine Woche später hatte ich den gerichtsmedizinischen Befund im Briefkasten: 0,79 Promille. Die Formel hatte also ins Schwarze getroffen.
Das Ergebnis war erschütternd. Denn so, wie ich mich an diesem Nachmittag gefühlt hatte, exakt am Grat der juristisch festgelegten Fahruntüchtigkeit, hätte ich niemals auch nur den Gedanken gehegt, ein Fahrzeug zu lenken. Wahrscheinlich hätte ich mein Auto in einem solchen Zustand gar nicht gefunden. Oder den Schlüssel nicht ins Türschloss popeln können.
Im durchaus bedenklichen Umkehrschluss hieß das aber auch: Solange Du Dich nicht derartig besoffen fühlst wie an jenem Freitag, kannst Du Dich jederzeit noch hinters Steuer setzen, ohne juristische Folgen befürchten zu müssen. – Ob das allerdings so stimmt, weiß ich bis heute nicht.
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