Der Kollege hinter dem Schreibtisch gegenüber sagt, Vorsätze für das neue Jahr sind das Eingeständnis des eigenen Versagens. Der Kollege ist so ein Selbstoptimierer. Trägt ein Fitness-Armband, das ihm elektronische Geheimnachrichten schickt; ihm zuflüstert, wie schlecht er geschlafen hat; wie viele Schritte er noch machen muss, bevor er wieder ins Bett darf; wie gut sein Sex war und wie hoch dabei sein Blutdruck.
Wer Vorsätze braucht, sagt der Kollege, der hat sich nicht an die persönlichen Geheimnachrichten gehalten. Hat versagt. Da helfen dann eben auch keine noch so guten Vorsätze mehr. Dann steht er auf, der Kollege, und geht ins Treppenhaus. Stiegen steigen. Das hat ihm gerade sein Armband aufgetragen. Und was das Armband sagt, das muss man tun.
Na ja, denkt sich Herr Albert, das wäre nichts für ihn. Geradezu unheimlich wäre ihm so ein Zuflüsterer. Außerdem würde ihm das Armband ja ohnehin nur sagen, dass er zu Silvester wieder viel zu viel getrunken hat. Gruselig stellt er sich das vor: Er wacht am 1. Januar gegen elf auf, und auf seinem smarten Phone warten schon sechs Nachrichten auf ihn, alle von diesem Fitness-Diktator.
8.00 Uhr: Was ist los? Aufstehen!
8.15 Uhr: Hallo! Puls 50? Schläft der A. noch immer?
8.30 Uhr: Das ist doch der Hammer. Was soll denn aus diesem Tag noch werden? Wie soll denn der A. heute die 10.000 Schritte schaffen, wenn er noch immer pennt?
9.00 Uhr: Ich geb es auf. Schon eine Stunde Verzug. Schon wieder so ein Tag, der nur dazu da ist, das Leben des A. zu verkürzen.
10.00 Uhr: Mannomannomann …
10.53 Uhr: Hallo, Du musst pinkeln! Steh jetzt endlich auf!
Dann schleppt er sich ins Bad, der Herr Albert, weil er nämlich wirklich pinkeln muss. Er blickt auf sein Handgelenk und lächelt glückselig, weil er dort seine alte Armbanduhr entdeckt, die er jeden Tag noch mit der Hand aufziehen muss, damit sie nicht stehen bleibt. Uhr statt Fitness-Diktator. Gott sei Dank.
Und weil da kein elektronisches Armband ist, das ihm vorhält, er hätte versagt, weil er sich etwas für das kommende Jahr vornehmen muss, geht er in die Küche, sieht einer Aspirintablette dabei zu, wie sie sich sprudelnd und auf und nieder tanzend in einem Wasserglas auflöst, und legt sich dabei ein paar Dinge für 2016 zurecht.
1. – Kein Schnaps mehr zum Bier. Das war nämlich das letzte Aspirin in der Schachtel.
2. – Unter der Woche vor Mitternacht ins Bett. Aber daraus wird sowieso wieder nichts, weil das nimmt er sich schon seit Jahrzehnten erfolglos vor.
3. – Endlich das mit der Frau Kerstin klären. Denn es geht ja nicht, dass sie dauernd umeinander herumschleichen und sich beschnüffeln wie zwei Straßenköter, aber dann doch nicht den nächste Schritt machen, weil sie beide ganz genau wissen, dass das nichts werden kann mit ihnen. Das muss aufhören. So oder so.
Aspirin, Zahnbürste, Schal und Schuhe, und schon ist er draußen, der Herr Albert und sieht dem nassen, schweren Schnee dabei zu, wie er die Äste der kahlen Bäume in den Schwitzkasten nimmt und niederdrückt, bis vielleicht tatsächlich einer knackend bricht.
Dem Herrn Albert ist es egal, wie viele Schritte er gleich machen wird. Das braucht ihm keiner vorzuzählen. Aber Sauna wäre gut, heut Abend.
Der is mir irgendwie sympathisch, der Herr Albert … :-)
Zum Thema „Life-Tracking“ gab’s vor etwa einem Jahr mal eine bitterböse Schlagseite in der c’t:
http://www.heise.de/ct/ausgabe/2015-5-Schlagseite-2536951.html
Uuh, ist der bös! (Aber wahr. Also unbedingt anklicken, Ihr, die Ihr da zufällig vorbeikommt.)
Ach ja, und der Herr Albert ist halt so ein kleiner Spießer mit Alltagssorgen, wie wir sie alle haben. Ich mag ihn ja auch ganz gern.
Lieber Wortmischer,
ich entdecke hier bei Ihnen neue Seiten an mir.
So so, der Kollege sagt, gute Vorsätze sind also das Eingeständis des eigenen Versagens.
Wenn ich das so betrachte, dann läufts doch besser als gedacht bei mir: Ich habe dieses Jahr gänzlich ohne Vorsätze eingenommen. Nicht mal zu einem Einzigen habe ich mich aufgerafft. Und ich gestehe: Damit lebt es sich bis zur Stunde recht gut.
Wenn Herr Albert das das seinem Kollegen erzählt, fragt der ganz sicher nach, ob diese Frau Rosenherz auch ein Fitnessarmband trägt. Ach was, er wird nicht nachfragen; er wird feststellen, dass es gar nicht anders sein kann!