Rumpelstilzchen in der U-Bahn

Rumpelstilzchen

19 Uhr, U-Bahn-Linie 3 in Richtung Frankfurter Innenstadt. – Protagonisten: Rumpelstilzchen, Margarete Stokowski, Conan der U-Bahnpilot, Herr W. – Etwa 10 Statisten ohne Text.

Haltestelle weit draußen im Randbezirk, der Waggon ist fast leer. Ich sitze allein in einer Vierergruppe, hinter mir zwei junge Kerle, mir gegenüber ganz vorne im Wagen eine entschlossen wirkende Dame, deren Gesicht mich an Margarete Stokowski erinnert. In dem Moment, als sich die Wagentüre zu schließen beginnt, wirft sich noch ein weiterer Passagier in den Spalt und springt auf den allerletzten Drücker in den Waggon.
„Dankeee!“, ruft er lauthals in Richtung Fahrerkabine und lässt sich dann in die Sitzgruppe auf der anderen Seite des Gangs fallen. Er wirft einen prallen Rucksack auf die Bank gegenüber und legt gleich mal beide Füße auf das Polster daneben.
Der Kerl, Typ ausgemergelte Trockenpflaume, muss Ende vierzig, Anfang fünfzig sein, trägt eine Strickmütze, fleckigen Parka und dunkelbraune Cordhosen. Ein Unterschenkel samt Fuß steckt in einer grauen Plastik-Beinschiene. Er wirkt rastlos, scannt mit zwanghaft zwinkernden Augenlidern den ganzen Waggon.

Rumpelstilzchen, denke ich. Das ist Rumpelstilzchen!

~

Rumpelstilzchen (springt auf und humpelt durch den Gang nach hinten): „Ey, hat jemand ’ne Kippe für mich?“

Nach ein paar Minuten taucht er mit einer Zigarette zwischen den Lippen wieder auf und lässt sich erneut auf den Sitz gegenüber seines Rucksackes fallen. Schnick! Schnick! Das Feuerzeug braucht ein paar Drehungen am Rädchen, bis eine Flamme herausspringt. Dann qualmt die Zigarette und Rumpelstilzchen dampft den Waggon voll.

Die Stokowski: „He! Machen Sie sofort die Zigarette aus. Hier ist Rauchen verboten!“

Rumpelstilzchen (qualmt ungerühr weiter): „Mach dir nich‘ ins Hemd, Mädchen.“

Die Stokowski (dreht sich um und klopft an die Scheibe zur Fahrerkabine): „Hallo? Hier drin raucht jemand!“

Rumpelstilzchen (drückt genervt die Kippe auf der Sitzschale aus): „Olle Petze.“

Die Stokowski: „Sie sind hier nicht alleine.“

Rumpelstilzchen: „Olle Petze, olle Petze. Du bist so hässlich wie die Nacht finster.“

Stille. Die Stokowski schaut demonstrativ in eine andere Richtung.

Rumpelstilzchen: „Du bist so eine blöde Petze. Wenn du keine Hosen anhättest, wüsste man gar nicht wo dein Gesicht und wo dein Arsch ist.“

Stille.

Rumpelstilzchen (zündet die Kippe erneut an): „Blöde Petze. Meinst du, mich kümmert, was du mit dem Arsch sagst?“

Herr W. (bekommt Blutdruck, erhebt sich und macht zwei lange Schritte nach nebenan): „Hör zu, Rumpelstilzchen, Du schaltest jetzt sofort auf lautlos. Und wenn die Kippe nicht in fünf Sekunden aus ist, dann drück ich Dir die Glut auf Deinem Arsch aus.“

Rumpelstilzchen wird blass, drückt die Zigarette aus und beginnt, Unverständliches vor sich hin zu murmeln. Die nächsten zehn Minuten blickt er immer wieder ängstlich zu Herrn W., bis dieser aussteigt. Die Stokowski verlässt ebenfalls den Waggon.
Als die Bahn wieder anfährt, sieht Herr W., wie Rumpelstilzchen erneut die Kippe in Brand setzt.

Sekunden später legt die U-Bahn eine Vollbremsung hin. Durch die Fenster sieht man, wie eine hünenhafte Gestalt auf Rumpelstilzchen zugeht. Die Türe öffnet sich, und Conan der U-Bahnpilot setzt Rumpelstilzchen an die Luft.

Die Stokowski (zu Herrn W.): „Leute gibt’s … Man glaubt es nicht, wenn man es nicht selbst erlebt hat.“

Herr W.: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

~

Zeichnung: Philipp Grot Johann, 1893

12 Kommentare

  1. Da sach ich doch direkt mal und stellvertretend danke! In solchen Situationen weiß ich immer nicht so recht. Ich vermute, es hülfe wohl, wäre man einsneunzig groß und gebaut wie ein Schrank; aber auch die Schränke machen dann meist nur das: rumstehen … Insofern.

    1. *lach* … Na ja, es hilft tatsächlich, an die einsneunzig zu messen und zumindest vor dreißig Jahren mal Wohnzimmerschrankformat besessen zu haben. Rumpelstilzchen jedenfalls lassen sich davon gerne beeindrucken. Manchmal reicht auch schon das dekorative Rumstehen.
      Frau A. meint, mit mir fährt sie sogar mitten in der Nacht mit der Bahn nach Hause, ohne sich zu sorgen.

      Und ich bin der Ansicht, man(n) ist es seinen Mitreisenden schuldig, auch mal bestimmt aufzutreten und sich einzumischen. Selbst wenn man dann prollig rüberkommen sollte. – Insofern: Gern geschehen ;-)

  2. Anstand. Und Soziales Verhalten. Fehlen leider viel zu oft heutzutage, weil zu viele Leute damit beschäftigt sind, ihren Egotrip zu leben.

    Bitte mehr davon!
    Von solchen Geschichten und von in die Schranken verwiesenen Rumpelstilzchen.

    1. Ich kenn das ja auch aus meinem beruflichen Umfeld (an einer Schule): Viele (Eltern, Schüler, Lehrer) schauen lieber weg als hin, wenn es ungemütlich wird. Nur wenige mischen sich ein, und wenn man fragt, wieso nicht, kommen Antworten wie:
      Das geht mich doch nichts an. – Wenn ich Stellung beziehe, muss ich ungeplante Zeit aufwenden, um zu diskutieren und mich zu rechtfertigen. – Wenn ich unbequem bin, hat mich sicher irgendwer auf dem Kieker. – Wieso soll ich, wenn es sonst niemand macht? …

      So traurig solche Antworten auch sind, sie menscheln halt ganz schön doll.

  3. Aha,dort hat sich Rumpelstilzchen also rumgetrieben! Danke für Ihre scharfe Beobachtungsgabe, Herr Wortmischer.

    Ich war im Railjet nach X unterwegs und habe dabei Fred Feuerstein getroffen. Er steckte in der Dienstkleidung eines Zugbegleiters und wollte unsere Fahrkarten sehen. Fred war so drollig und süß, zum Verlieben.

  4. Jetzt dämmert es mir, woher mir Margarete Stokowski bekannt vorkommt. Die hat doch „Unterum frei“ geschrieben und meint: „Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind.“ Ein Buch, worin sie scharfsinnig im Alltag beobachtet, wieso es mit der „sexuellen Befreiung“ und der Geschlechter-Gerechtigkeit noch nicht so weit her ist.

    1. Genau die isses! – Allerdings hat ihr die Frau in der Bahn wohl nur äußerlich ein wenig ähnlich gesehen. Ob die echte Frau Stokowski einen U-Bahn-Raucher zur Ordnung rufen würde, weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob die echte Stokowski überhaupt U-Bahn fährt.
      (Übrigens: Was ein Railjet ist, musste ich erst mal googeln. Man weiß ja viel zu wenig über die technischen Errungenschaften in den direkten Nachbarländern und dass man bei Euch railaxen kann!)

    2. Herrlich: Railaxen! Es gibt sogar ein Railaxed- Magazin.
      Ja ja, der Railjet, ein Fernreiseverkehrszug mit Komfort und 230 kmh Fahrgeschwindigkeit, von Siemens gebaut. Sogar sogenannte Flüster-Abteile gibts da, in denen es recht leise zugeht und frau in aller Ruhe lesen kann. – Wenn Sie mal nach Österreich kommen, können sie mit der „Himmelstreppe“ fahren und dabei das herrliche Panorama der Voralpen genießen ;-)

    3. Ich werde das ernsthaft in Erwägung ziehen. Weil ich ja eigentlich auch sehr ungern Auto fahre. Und wer könnte schon einer Fahrt in der Himmelstreppe widerstehen? – Tu felix Austria!

  5. Herrlich beschrieben: ich habe mir die Situation richtig bildhaft vorstellen können, und: eine (wahre) Geschichte mit HappyEnd
    ;-)

Kommentare sind geschlossen.

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