Herr Buddenbohm & Söhne haben eine Aktion mit Stadtteilbeschreibungen losgetreten, an der sich mittlerweile längst nicht nur Hamburger beteiligen. Da will auch ich mich anschließen, obwohl „mein Stadtteil“ ein paar tausend Kilometer von Hamburg entfernt liegt.
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Ich behaupte einmal provokativ, völlig subjektiv und gewappnet gegen alle Arten von Widerspruch: Die schönste Stadt der Welt ist Barcelona. Nachdem diese wichtige Feststellung getroffen ist, sei angemerkt, dass Barcelonas Stadtfläche klein ist, da sie im Südosten vom Mittelmeer, im Norden und Osten von einer Hügelkette und im Nordwesten von unzähligen, eng gestaffelten Vororten und zuletzt von den Ausläufern der Costa Brava eingepfercht wird. Nichtsdestoweniger gibt es viele verschiedene Stadtteile, von denen die Touristen wahrscheinlich nur die wenigen emblematischen kennen: allen voran das Barrio Gótico und das Barrio Chino links und rechts von Las Ramblas, der Tourimeile, auf der sich täglich und nächtlich die Besuchermassen hinunter zum Hafen drängeln und sich von den Trickdieben ausnehmen lassen; oder Sant Gervasio und Pedralbes am Fuße des Tibidabo, den beiden Wohnvierteln für die Besserverdiener der Stadtbevölkerung; oder vielleicht sogar den neuen Hafen mit Strand, Amüsiermeile und frisch entstandenen, teuren Wohnbauten. Eventuell kennt der eine oder andere auch das Eixample, das Reißbrettviertel mit viel Altbausubstanz und rechtwinkelig angelegten Straßenzügen wie in Manhattan, das gegen den Strich nur von der Durchfahrtstraße Avinguda Diagonal durchzogen wird.
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Aber wer wohnt dort schon. Ich meine: wer will es sich leisten in einem dieser Stadtviertel zu wohnen. Mein Viertel, mi barrio, mi barrí ist Les Corts.
Wenn man mit der Metrolinie 5 nach Westen in Richtung Cornellà fährt und an der Station Collblanc aussteigt, steht man an einer Straßengabelung, an der der Verkehr tosend an einem vorbeirauscht. Aus dem Westen kommen die Fahrzeuge aus den Vororten Esplugues, Sant Just Desvern und Cornellà über die Carretera de Collblanc heruntergerast, an Dir vorüber und weiter nach unten, nach Osten, in Richtung Plaza España. Und aus dem Nordosten strömen die Fahrzeugmassen aus der Innenstadt über die Travessera de Les Corts an Dir vorbei in Gegenrichtung in die Vororte.
Hier wird es niemals ruhig, weder am Tag, noch in der Nacht. Es gibt einen großen Zeitungskiosk neben einem kleinen Park, Supermärkte, Schuhgeschäfte und einen Weinkeller, in dem Dir die Angestellten preiswerten Wein aus riesigen Holzfässern in mitgebrachte Plastikkanister abfüllen. Ein paar hundert Meter in Richtung Plaza España liegt ein Markt, in dem Du frischen Fisch, Fleisch, Obst und Gemüse bekommst – nicht in der großartigen Aufmachung des berühmten Mercat de la Boquerìa an den Ramblas, aber dennoch in riesiger Auswahl. Diese Ansammlung an Geschäften in hoher Konzentration ist sehr wichtig für die Anwohner, da man den Einkauf mit dem Auto direkt vergessen kann. Man geht besser zu Fuß.
Wenn Du allerdings an der Metrostation Collblanc in Richtung Norden in die Avinguda de Sant Ramón Nonat einbiegst, wird es schnell ruhiger. Du gehst an einem der winzigen, blau-weißen ONCE-Stände vorbei, in dem Dir ein Mitglied der Nationalen Blindenorganisation Spaniens Glückslose verkauft, kommst an der Pfarrei Sant Ramón Nonat und einem Blumengeschäft vorbei sowie an einer Bäckerei, in der das Personal Bestellungen nur auf Katalan beantwortet. Schließlich erreichst Du die Calle Cardenal Reig, eine zweispurige Wohnstraße, an der rechts und links Hochhäuser in den Himmel ragen. An dieser Ecke biegst Du nach links ab und stehst nach ein paar Metern vor einer der typischen spanischen Bars mit blau-rot gestreiften Markisen. Wie diese Bar tatsächlich heißt, weiß ich gar nicht. Für uns war es immer die „Bar del Toni“, mein erweitertes Wohnzimmer, über dem sich im dritten Stock meine erste und beste Wohnung in Barcelona befindet.
Bei Toni beginnt jeder Tag mit einem café con leche und er endet dort mit einem Bier, Tapas oder einem bikini, einem Toastsandwich mit Käse und Schinken. Bei Toni kann man übrigens prima Fußball gucken, am liebsten alle Barça-Heimspiele mit Bild aber ohne Ton. Den Ton braucht man nicht, weil das Stadion Camp Nou nur ein paar hundert Meter entfernt liegt und die Originalgeräuschkulisse zehnmal besser als das Fernsehgequake ist.
Zum Zweck des nächtlichen Ausgehens ist das Viertel Les Corts nicht besonders geeignet; es sei denn, man steht auf Straßenstrich. Direkt links vom Fußballstadion steht nachts das horizontale Gewerbe bereit für jede Art der sexuellen Dienstleistung. Allerdings heißt es aufgepasst, da vermutlich die Hälfte der Damen ausgesprochen hoch gewachsen, muskulös gebaut und nicht unbedingt jeder Manns Sache ist. Wer hier lieber passt, setzt sich in die Metro und fährt hinunter zu den Restaurants und Clubs im Eixample oder in der Hafengegend, mehr als zwanzig Minuten ist man nicht unterwegs. Bei der Rückkehr in den frühen Morgenstunden kann man an der Metro Collblanc noch in die Churrería einkehren, um eine Tasse Schokolade mit churros, einem frittierten und gezuckerten Spritzgebäck, zu schlemmen, bevor man sich niederlegt.
Die Rambla an der Calle Cardenal Reig ist eher etwas für den frühen Abend. Sobald sich alle den Staub des Tages aus den Poren gespült, reichlich colonia (Kölnisch Wasser) auf- und frische Hemden angelegt haben, trifft man sich auf ein Bier oder ein Glas Wein oder einen carajillo (Espresso mit Schuss) auf der Terrasse bei Toni oder einer der anderen Bars in der Nähe, schwingt (end-)lose Reden und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen den strengen Katalanen und den Zugewanderte aus dem Rest Spaniens, man hört mindestens ebensoviel Kastilisch auf der Straße wie Katalan. Les Corts ist ein Mittelklasseviertel, dem der Dünkel der gehobenen Wohngegenden Barcelonas fehlt, auf der anderen Seite aber auch das Prekariat von Sants oder Cornellà abgeht.
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Natürlich muss ich einräumen, dass viele deutsche Besucher in diesem Stadtviertel zunächst einmal in Schockstarre verfallen, wenn sie mit Verkehr, Lautstärke, Sauberkeit, Bausubstanz und Straßenkriminalität konfrontiert werden. Aber das gilt vermutlich für fast alle Wohnviertel in spanischen Großstädten. Es ist eben alles relativ. Und in Les Corts lässt es sich wirklich prima leben. – Und wer weiß: Würde ich noch immer dort wohnen, würde die Tochter 1.0 inzwischen vielleicht tatsächlich mit Tonis Sohn ausgehen, der nur ein paar Monate älter ist als meine Tochter. So wie Toni und ich das vor fast zwanzig Jahren geplant hatten.
Les Corts! Da habe ich auch mal gewohnt. Toll toll toll. Wie schön, dass ich heute ganz zufällig hierher gestolpert bin, denn morgen besuche ich wieder die schönste Stadt der Welt und die Vorfreude ist jetzt noch etwas größer geworden.