Rücksprachetermin beim Oberchef: Stellen Sie sich vor, Sie berichten von einem Problem mit einem Zulieferer, der trotz früherer Zusagen Termine nicht einhält. Dadurch können Sie dem wichtigen, wichtigen Kunden seine Bestellung nun ebenfalls nicht termingerecht ausliefern. – Was antwortet die Führungskraft? Übernimmt sie, wie erhofft, den Staffelstab und trampelt mit dem vollen Gewicht ihres Handlungsvollmachtsrahmens beim Zulieferer in die Bude, um ihn zur Schnecke zu machen? Nein, das macht sie nicht. Vielmehr fragt sie Sie, ob denn eine „belastbare Papierlage“ vorhanden sei.
Sie sacken in sich zusammen, Ihr Kinn fällt auf die Brust. Denn auf einmal sind Sie selbst es, der in Zugzwang gerät. Mit der Frage nach der „Papierlage“ müssen Sie nur Minuten nach der Rücksprache nachweisen können, dass Sie a) den Lieferanten schriftlich aufgefordert haben, den zugesagten Termin einzuhalten, auch wenn dieser zuvor bereits auf seine Lieferunfähigkeit hingewiesen hat. Außerdem müssen Sie b) Ihren Kunden ebenfalls schriftlich darauf hingewiesen haben, dass es Terminschwierigkeiten gibt. (Heutzutage™ bedeutet „schriftlich“ natürlich nicht mehr, dass Briefe getippt, gedruckt, unterzeichnet und versandt werden. Korrespondenz per E-Mail ist ausreichend.)
Allerdings sprechen wir bei der bisher beschriebenen Vorgehensweise lediglich von einer „stinknormalen Papierlage“. Von „belastbar“ kann noch keinesfalls die Rede sein. Damit die Papierlage belastbar wird, müssen alle Hintergrundvorgänge ebenfalls schriftlich dokumentiert werden. Das bedeutet im Einzelnen folgendes:
1. – Aus der E-Mail an den Lieferanten wird eine mehrseitige Kettenmail. Ganz oben steht Ihre Terminerinnerung (siehe oben), darunter die gesamte Ping-Pong-Historie; angefangen bei Ihrer ersten Anfrage aus dem August vor zwei Jahren, über die schriftliche Terminbestätigung des Lieferanten, bis zu seiner Problemmeldung.
2. – Auf Kundenseite folgt Ihrer Benachrichtigung zu den Terminschwierigkeiten (siehe oben), der komplette Bestellvorgang vom ersten Kontakt über Angebote bis zur verbindlichen Bestellung und Auftragsbestätigung.
Damit die Papierlage aber über jeden Zweifel erhaben belastbar ist, reicht dieser Schriftwechsel noch immer nicht aus. Vielmehr müssen Sie auch alle hausinternen Abstimmungsprozesse dokumentieren: Wer hat den Kunde an Land gezogen? Wann war das? Wer hat die Angebote unterschrieben? Entsprach die Unterschrift den gültigen Entscheidungsrahmen? War der Unterzeichnende womöglich ein Vorstand Ihres Unternehmens? Dann benötigen Sie natürlich auch noch alle Hausmitteilungen, in denen Sie dem Vorstand die Sachlage erklärten und die von allen in der Unternehmenshierarchie maßgeblichen Personen abgezeichnet wurden. Und letztlich ist auch noch die technische Freigabe des eingekauften Produktes durch die technische Abteilung nachzuweisen.
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Das, lieber Leser, ist eine „belastbare Papierlage“. Mit deren Zusammenstellung sind Sie locker mal zwei bis drei Tage lang beschäftigt. Und sobald Sie alles beisammen, in Leitzordnerstärke ausgedruckt und dem Chef in den Posteingang gelegt haben, dauert es nur mehr ein oder zwei Wochen bis Sie eine Rückmeldung erhalten. Die lautet dann bestenfalls: „Nach Rücksprache mit unserem Vorstand haben wir entschieden, dass Sie dem Lieferanten mitteilen, er müsse den Liefertermin unbedingt einhalten, wenn er auch künftig Geschäft mit uns machen wolle. Außerdem entschuldigen Sie sich bitte auch im Namen unserer Unternehmensleitung beim Kunden für die Terminverschiebung.“
Schlechtestenfalls erhalten Sie an Stelle der geschilderten Vorstandsentscheidung einen Rüffel/eine Ermahnung/eine Abmahnung, weil Sie leider doch nicht auf eine „belastbare Papierlage“ geachtet hätten.
Egal was von oben kommt, die Angelegenheit ist in der Zwischenzeit natürlich längst durch. Der Lieferant hat verspätet zugeliefert, Ihr Kunde hat die Ware bekommen, wenn auch Tage oder Wochen zu spät, und ist mehr oder weniger sauer. – Die Fragen, die Sie sich stellen sollten, lautet: Wozu haben Sie Ihren Chef informiert? Und wozu diente die Papierlage?
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Ich verrate Ihnen auch, wie die Antwort auf diese Fragen lautet. Ihre Information an den Chef war nicht nur überflüssig sondern entsprach der typisch deutschen Form der Selbstentleibung. Denn die „belastbare Papierlage“ diente ausschließlich dazu, Ihren Chef abzusichern und auf jeden Fall Ihnen den Schwarzen Peter zuschieben zu können. – Denken Sie darüber nach, bevor Sie sich das nächste Mal bei Ihrem Chef auskotzen.
Drum: Gehe nur zu Deinem Fürst, wenn Du von ihm gerufen wirst. ;-)
„… gerufen würst.“, haben mir die Kollegen als erstes beigebracht, als ich vor fünfzehn Jahren hier antrat. Es gilt am Main also fast das Gleiche wie unterm Alex.
Aber manchmal wird man ja auch gerufen. Das machen Chefs heutzutage gern über die Outlook-Funktion ihrer Sekretärinnen. Man darf dann trotzdem nicht den Fehler machen, über Probleme zu sprechen. Sonst: siehe Beitragstext.