Vor zig Jahren steckten der kleine Wortmischer, sein noch kleinerer Bruder und sein bester Freund gewissenhaft alle Taschengelder, Onkel-Tanten-Geschenke sowie gefundene Pfennigstücke in die Bäuche ihrer Sparschweine, zählten zu jedem Wochenende den Barmittelbestand und verglichen die vorhandenen Geldmengen mit den Preisen für Eintrittskarten zu den Heimspielen des FC Bayern im Münchener Olympiastadion. Sobald wir genug Zaster für drei Stehplatzkarten für Schüler beisammen hatten, warfen wir uns in die dreistreifigen Trainigsanzüge – Sie werden es kaum glauben: meiner war rot! – umklammerten unsere selbstgenähten rot-weißen Fähnchen an Bambusstöcken und pilgerten unter Zuhilfenahme von Bus und U-Bahn zum samstagnachmittäglichen Spiel unserer großen Vorbilder.
Mutter Wortmischer hatte damals wenig Verständnis für die Samstagsausflüge ihrer Söhne. Wahrscheinlich hegte sie mütterliche Ängste um das Wohlergehen ihrer Sprösslinge. Und so wiederholte sie Monat für Monat wie eine tibetanische bayerische Gebetsmühle eine Frage, die uns Burschen immer mehr auf die Nerven ging: „Was soll daran bitte so toll sein, sich gegen Geld in eine Menschenmenge zu stellen, in der ihr sowieso nichts vom Spielfeld seht? Warum schaut ihr nicht einfach die Zusammenfassung in der Sportschau?“
Die Freude am Besuch eines Fußballstadions kann man nicht erklären, man muss sie fühlen. Also hakten wir eines Samstags unsere Mutter unter, schleppten sie mit uns ins Olympiastadion, damit sie endlich einmal miterleben und mitfiebern konnte und uns fortan die Ausfragerei ersparen würde. – Es war September 1974, ein warmer Nachmittag und die Bayern empfingen den 1. FC Köln. Die erste Halbzeit war furchtbar, aus Sicht eines Bayernfans ein einziges Debakel. Die Kölner gingen mit stolzgeschwellter Brust sowie einer Auswärtsführung von 3:2 in die Pause. Unsere Stimmung war gedrückt, großes Schweigen auf der Stehplatztribüne. Die Fähnchen hingen schlapp an den Stangen, die Mutter verstand gar nicht mehr, was uns hierher trieb und wollte eigentlich lieber sofort nach Hause.
Sie blieb dann aber doch, wohl um uns nicht noch mehr zu enttäuschen. Dieser altruistischen Entscheidung verdankte sie ein Fußballerlebnis in der zweiten Halbzeit, das sie ihr Lebtag lang nie wieder vergessen sollte. Letztlich drehte der FC Bayern nämlich das Spiel und gewann mit 6:3 gegen Köln. Die Tribüne verwandelte sich in ein rot-weißes Inferno. Jedes der Tore wurde mit einem tausendkehligen Gebrüll quittiert, von dem die Mutter hinterher berichtete, es habe sie an das Geräusch von Stalinorgeln während des Krieges erinnert. Die Menge stampfte im Gleichtakt zu den Gesängen, so dass die Betontreppen zu beben und zu schwingen begannen. Die Mutter wurde ganz leise und ganz blass. Als das letzte Tor fiel, tanzte das Stadion im Freudentaumel, während die Mutter sich mit grünlicher Gesichtsfarbe an einem der Stahlbügel auf der Tribüne festklammerte.
Den nächsten Stadionbesuch wollte sie uns dann kategorisch verbieten: „Da geht ihr mir nicht mehr hin! Das ist ja lebensgefährlich!! Nie wieder!!!“ – Stadionverbot für den Wortmischer? Es kam zum Glück doch anders, weil der Vater ein Machtwort sprach und die Mutter überredete.
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Der FC Bayern schloss jene Bundesligasaison übrigens auf dem zehnten Tabellenplatz ab, Köln wurde Vierter oder Fünfter. Der rote Trainigsanzug passt mir heute längst nicht mehr, und auch die Fahne ist irgendwo auf der Strecke meines Lebens geblieben. Inzwischen schlägt sogar mein Herz für einen anderen Fußballverein. Trotzdem würde es mich freuen, wenn die Bayern heute Abend das Pokalfinale gewinnen würden.