„Ich bin so wild nach Deinem Himbeermund“, raunt der Kerl, der mir gegenüber in der U-Bahn sitzt, dem Mädchen an seiner Seite zu. Gerade so laut, dass ich es auch noch verstehen kann. Sie reagiert ein bisschen genervt, wirft ihm einen bösen Blick zu, verzieht gequält den Himbeermund. Er aber greift nach Ihrem Arm, himmelt sie an, und auf einmal muss ich grinsen, weil mir in einer Assoziationskette sozusagen im Dominoeffekt verschiedene Dinge klar werden. Mit seinen fleischigen Lippen, dem wirren, hellblonden Haar, den in demonstrativ zur Schau getragener Leidenschaft geblähten Nüstern erinnert mich der U-Bahn-Casanova schlagartig an Klaus Kinski, so wie der den Fitzcarraldo gespielt hat. Und zu Kinski fällt mir sofort dessen Skandalbiografie ein, in der er das Deutschland der Siebzigerjahre mit Geständnissen zu Kindesmissbrauch, Homosexualität und Kokain verstörte. Erst weiß ich nicht, wie ich von der U-Bahn-Baggerei ausgerechnet auf eine Kinski-Biografie komme. Aber mit einer kleinen Synkope fällt dann der Groschen und mir wird klar, dass diese Biografie den Titel „Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund“ trägt.
Erbeermund. Nicht Himbeermund. – So ein Westentaschen-Kinski!
Meine Gedanken wandern weiter und mir fällt auf einmal Señora Rosa ein, die „Frau mit dem Birnenbusen“ – ja, da ist er schon wieder! – „und mit den breiten Hüften. Die Frau mit dem Himbeermund und Füßen wie Schnitzel. Die Frau mit Armen, die Dich zudecken. Die dankbare Frau Rosa.“ Rosa, die spanische Heldin der Lyrik:
Mein Zuckermund
an dem Küsse hängen
die die Deinen sind
Mein salziger Mund
der von Deinem Honig
getränkt ist
Mein Himbeermund
sucht Dich …
Heiland! So alt wie der U-Bahn-Kinski aussieht, hat der bestimmt auch eine Frau Rosa zu Hause sitzen, denke ich. Eine Frau mindestens mit Birnenbusen, die frustriert ist von ihrem Ehemann und in erotischen Denkspiralen von wilden Eskapaden ihres Zuckerhimbeermundes träumt. Und er sitzt in der Bahn und himmelt ein Mädchen an, das seine Tochter sein könnte. Vielleicht ist sie ja seine Tochter. Das würde dann ja wieder zum echten Kinski passen.
„Ach, lassen Sie das doch mit dem Himbeermund, Herr Schimmer“, wehrt sich das Mädchen neben dem Kinski-Imitator. – „Sie“ sagt sie zu ihm? Also doch nicht seine Tochter?
„Außerdem heißt das ‚Erdbeermund‘ und nicht ‚Himbeermund‘. Das hatten wir doch erst letzte Woche in Deutsch. Paul Zech. Der Erdbeermund.“
Fräulein Himbeermund steht auf, geht zur Türe der U-Bahn und ignoriert den zurück bleibenden Kinski-Kerl, der ihr mit irrem Blick nachstiert. An der nächsten Station steigt sie aus, er beginnt murmelnd zu deklamieren.
„Diese Schickse. Keine Ahnung von künstlerischer Freiheit. Himbeermund ist doch unter künstlerischen Aspekten weitaus besser als Erdbeermund. Und leckerer. Respektlos ist das. Ignorant. Wie sie alle sind heutzutage. Unfertige Weiber, kein bisschen romatisch. Aber Himbeermaul, meine Fresse …“
Ich gehe ebenfalls zur Tür. Jetzt habe ich unbändige Lust auf einen Himbeer-Traum: Mit gefrorenen Himbeeren, zerbröseltem Baiser, ein bisschen Quark und Schlagsahne. – Meine Fresse!
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schööön ! ! !
und bei der künstlerischen freiheit bin ich auf seiner seite. himbeermund finde ich viel schöner und intensiver und weicher als erdbeermund. vielleicht auch noch diese künstlichen, geschmacklosen spanischen erdbeeren… niemals!
Ach ja, bei Beeren – egal ob jetzt Erd- oder Him-, spanischen oder deutschen – stehe ich ja auch mehr auf selbstgepflückte ;-)
Der Aushilfs-Kinski aber scheint tatsächlich keine eigenen Kinder zu haben. Denn sonst wäre ihm womöglich in der U-Bahn zunächst die Assoziation zum Scharlachsymptom „Himbeermund“ eingefallen. So wie mir. Die habe ich mir aber im Himbeertext oben verkniffen, obwohl das vielleicht auch eine interessante Geschichte ergeben hätte …
ich habe zwei kinder und scharlach hatte ich auch, aber mit der krankheit hätte ich himbeeren nicht in verbindung gebracht.
Ich erinnere mich daran, wie sich meine Mutter mit einer Nachbarin über den Himbeermund unterhielt. Ich kann damals nicht älter als vier Jahre gewesen sein, dachte aber neidisch: Verdammte Hacke, ich will auch dieses Scharlach, wenn ich dann einen Himbeermund kriege!
das ist ja eine tolle fortsetzung! vielen dank fürs lesevergnügen!
Freut mich, dass meine Fortsetzung gefällt!
Habe Ihren Beitrag etwas zu spät gesehen. Da hätte ich mir mein H sparen können. Aber die Erinnerung an Kinsky bringt bei mir die gleiche Zeitepoche hervor, wie es die Hermann Hesse-Periode war.
Himbeermund gefällt mir auch besser als Erdbeermund.
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Wirklich ein Lesevergnügen, ihr Beitrag!
Herzlichen Dank, Herr Steppenhund. Und: „Es kann nicht genug H geben.“ (Zitat Barbara L.)