Lebenslang

Melancolico (Pixabay 53899)

Joaquín saß an seinem Stammplatz während der Sommermonate, wo die Meeresbrise Kühlung und die Touristenströme bare Münzen brachten. Er sah hinaus auf das Hafenbecken, in dem ein riesiger Kreuzfahrtpott vor Anker lag, und versuchte sich vorzustellen, was das für Menschen waren in den unzähligen Schiffskabinen, die sich in kleinen Rechtecken auf dem Rumpf abzeichneten. Woher kamen diese Menschen? Und was trieb sie auf diese Riesendampfer? – Wahrscheinlich hatte heute schon der eine oder andere dieser Kreuzfahrer ein paar Münzen in den weißen Plastikbecher geworfen, der vor Joaquín auf dem Pflaster stand, aber für den Alten waren das Wesen von einem anderen Stern.

Eigentlich war Joaquín kein Bettler. Zwar war er alles andere als begütert, seine bescheidene Pension reichte gerade so für die Miete einer winzigen, dunklen Wohnung in der Altstadt und für das bisschen Essen, das ein alter Mann wie er brauchte. Aber betteln hätte er nicht müssen.
Und tatsächlich betrachtete sich Joaquín selbst gar nicht als Bettler. Das hatte sich einfach so ergeben, als er vor zwei Jahren, wie an jedem anderen Tag auch, auf den Steintreppen am alten Hafen saß, nur hundert Meter von der Kolumbussäule entfernt, wo täglich Tausende von Touristen vorüberliefen. Und weil Joaquín dort bewegungslos auf der Treppenstufe saß in dem alten, abgetragenen, ausgebeulten schwarzen Anzug – seinem einzigen präsentablen Kleidungsstück – und mit traurigem Blick in die Ferne starrte, hatte ihn eine Passantin für einen Obdachlosen gehalten und einige Münzen vor ihm abgelegt. Als er erstaunt in die mitleidsfeuchten Augen einer dicken, blonden Nordeuropäerin blickte, war ihm auf einmal klar geworden, was andere in ihm sahen: einen schwermütigen, womöglich kranken Alten, dem das Leben übel mitgespielt hatte und der nun auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen war.

Weil das so unglaublich einfach, wirklich ohne jede Einflussnahme seinerseits abgelaufen war, hatte Joaquín am nächsten Tag ein Plastikbecherchen aus einem Mülleimer gefischt und versuchsweise vor sich auf den Asphalt der Hafenpromenade gestellt, in dem sich von nun an Tag für Tag mal mehr und mal weniger Geld einfand.
Sicher gab es andere, die mehr einnahmen als er, indem sie den Touristen nachstellten und auf die Mitleidsdrüse drückten; wie etwa diesen verrückten Kolumbianer, der sich auf den Ramblas an Krücken dahinschleifte, dabei ein merkwürdig verdrehtes Bein nachzog und die Touristen auf fehlerhaftem Italienisch um Almosen anging.
Aber Joaquín und der Kolumbianer hatten sehr unterschiedliche Zielgruppen. Den lautstark jammernden, unangenehmen Behinderten wollten alle so schnell wie möglich loswerden. Dafür, dass er von ihnen abließe, bezahlten viele der Passanten. Joaquín hingegen lockte alleine mit der unendlichen Traurigkeit seines Blickes die Einfühlsamen an, die in ihm das gebrochene Opfer irgendeiner furchtbaren Tragödie sehen und sein Schicksal erleichtern wollten. Das war, so fand wenigstens Joaquín selbst, anständiger als die Masche des Kolumbianers, dessen weinerliches Italienisch zusammen mit dem Humpelbein in den Abendstunden verschwand – durch wundersame Heilung von Gebrechen und babylonischer Sprachverwirrung, sobald er seine Tageseinnahmen gezählt hatte.

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Am zehnten Geburtstag Joaquíns hatte die Staatspolizei bei ihnen zu Hause die Türe eingetreten und den Vater mitgenommen. Das war in den Jahren der gewaltsamen Säuberungen der Franco-Diktatur gewesen, zu einer Zeit, als im Rest Europas gerade Ruhe einkehrte und die Kriegstrümmer beseite geräumt wurden. Dem Vater warfen die Falangisten eine unzüchtige Beziehung zum jungen Pfarrer der Santa María del Pi vor. Beide Männer verschwanden auf Nimmerwiedersehen, und bald hieß es, sie hätten ihre Leben in den Kerkern des Montjuïc gelassen.
In dieser Nacht war Joaquín zum ersten Mal zum Hafen gelaufen und war bis an die Spitze des großen Wellenbrechers gegangen, um in die Dunkelheit des Meeres hinauszustarren und erste Bekanntschaft zu schließen mit der Erkenntnis, dass man das Leben nicht steuern konnte und dass es einem von hinten in die Kniekehlen trat, immer genau in dem Moment, in dem man glaubte, einen unverhofften Sonnenstrahl erspäht zu haben.

Da half kein Jammern, kein Wehklagen. Das erfuhr der kleine Quim erneut auf schmerzhafte Weise nur zwei Jahr nach der Entführung seines Vaters: Seine Mutter hatte das Verschwinden des Ehemannes in eine stetig vor sich hin wispernde Frömmlerin verwandelt, die zu gelegentlichen missionarischen Ausbrüchen neigte, im Laufe derer sie von den Wehrtürmchen der Santa María del Pi herab die Nachbarschaft lautstark zusammenstauchte. Am Morgen nach einer dieser Predigten wurde sie zum Fuße des Türmchens der Basilika gefunden, mit gebrochenem Genick.
Ob für den Tod der Mutter ebenfalls die Staatspolizei oder womöglich aufgebrachte Nachbarn verantwortlich waren, wurde nie geklärt. Ihr Ende führte zumindest dazu, dass der Waisenjunge Quim sich noch mehr verschloss und mehrere Tage und Nächte auf dem Wellenbrecher verbrachte.

Der Ironie des Schicksals war es zu verdanken, dass Joaquín nicht auf der Straße endete, wo er aus purem Mangel an Selbsterhaltungstrieb nicht lange überlebt hätte. Von dem Pfarrer, der gemeinsam mit seinem Vater verschwunden war, hatte der Junge eine grundlegende Schulausbildung erhalten, so dass er als einer der wenigen Jugendlichen im Viertel lesen, ein bisschen schreiben und rechnen konnte. Dank dieser Fähigkeiten bekam er eine Arbeitsstelle ausgerechnet im Kommissariat der gefürchteten Staatspolizei – zunächst als Lagerarbeiter und später als aufsehender Buchhalter im Gefängnistrakt des Montjuïc. Seine Vorgesetzten schätzten an Joaquín dessen unbestechliche Diskretion und Verschwiegenheit, die er noch nicht einmal brach, als er in alten Akten Berichte über Folterung und Tod seines eigenen Vaters und seines Lehrers fand.

In diesen Jahren war in Joaquín das unumstößliche Bewusstsein gereift, dass das Leben für ihn im Zweifel stets die unangenehmere Alternative bereit halten würde, wenn er an einem Scheideweg stünde. Er beschränkte sich darauf, sich von Montag bis Freitag in die Logbücher der Gefängnisverwaltung zu vertiefen und an den Wochenenden gedankenverloren aufs Meer hinaus zu starren.
An dieser Gewohnheit änderte auch die Straßenbekanntschaft einer jungen Dame aus der Nachbarschaft des Barrio Gótico nichts, der Joaquín über mehrere Monate hinweg mehrmals am Tag rein zufällig begegnete und die ihm jedes Mal aufmunternd zulächelte. Erst als der junge Mann auch nach einem halben Jahr keine Anstalt machte, die Dame wenigstens zu grüßen, endeten die zufälligen Treffen aus für Joaquín unerklärlichen Gründen. Doch im Grunde war er froh, sich dank der ausbleibenden Begegnungen wieder seiner Kontemplation des Unvermeidlichen widmen zu können.

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Nach fünfzig Jahren Tätigkeit in den Büros der Staatspolizei wurde Joaquín schließlich in die Rente entlassen, mit einer Belobigung durch seinen Chef und einer kanarischen Vargas-Robusto-Zigarre in der Brusttasche. In den Jahren danach hatte er zwei Dinge gelernt: Den Plastikbecher zu seinen Füßen rechtzeitig verschwinden zu lassen, wann immer ein Straßenpolizist in Sichtweite kam; und abends mit Sonnenuntergang seinen Platz zu räumen, um nicht Gefahr zu laufen, von den testosterongesteuerten Jungs verprügelt zu werden, die mit einbrechender Dunkelheit das Kommando in den Altstadtstraßen übernahmen.

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