Von Herrn Alberts Wohnungstürschwelle bis zur Bahnsteigkante an den Gleisen, die vom Fuße des Taunushügels in die große Welt hinaus führen, ist man fußläufig genau zwei Minuten dreißig unterwegs. Ohne jede Hektik. Herr Albert hat also zwei Möglichkeiten, die gewünschte Bahn anzusteuern:
Entweder er geht mit fünf Minuten Vorlauf los, um dann unweigerlich von der Anzeigetafel am Bahnsteig ablesen zu müssen, dass der Zug leider einige Minuten Verspätung hat. Dann stößt er einen oft geübten tiefen Seufzer aus und wartet wieder einmal ein Viertelstündchen in Regen oder Schnee, bis sich der Fahrer endlich seiner erbarmt.
Alternativ kann sich Herr Albert auch erst drei Minuten vor der fahrplanmäßigen Abfahrt auf den Weg machen. In diesem Fall allerdings fährt die Bahn stets und zuverlässig eine Minute zu früh vor und er verpasst den Anschluss.
Diese Fahrplanregel ist insofern wundersam, als diese Haltestelle die erste nach Endstation ist. Es gibt für das beschriebene Phänomen nur eine einzige Interpretationsmöglichkeit: Bei den Fahrplanmodifikationen muss es sich um eine ausgeklügelte, besonders perfide Variante der sogenannten „Rache des kleinen Lokführers“ handeln.
Wahrscheinlich – ach was, Albert ist sich ziemlich sicher, dass es so ist! – befindet sich in seiner Wohnungstüre eine Kontaktschleife, die das Öffnen des Türblattes über Richtfunk direkt in die Fahrerkabine der U-Bahn überträgt. „Aha“, denkt sich der Nahverkehrschauffeur dann, „heut ist er mal wieder früh dran, der Herr Albert. Dann lass ich mir eben noch ein bisschen Zeit und rauch noch eine, bevor ich losfahre.“
Lässt das Türkontaktsignal jedoch auf sich warten, erkennt der Fahrer messerscharf: „Ui, heut kommt der Albert echt auf den Punkt. Jetzt aber nichts wie los, nicht dass er die Bahn womöglich noch rechtzeitig erreicht!“
Ja, zwischen Herrn Albert und dem Fahrpersonal des Rhein-Main-Verkehrsverbundes herrscht verkniffener, bösartiger Kleinkrieg. Es gibt nur eine Methode, die Kerle zu überlisten: Früh losgehen, aber zwischenzeitlich noch leere Flaschen im Keller deponieren und ein oder zwei Müllsäcke in die Container entsorgen. Dann und nur dann steht er auf den Punkt am Gleis und steigt zu, nicht ohne dem Fahrer vom Dienst zuvor noch ein fieses Grinsen zuzuwerfen: Diesmal hast Du verloren, Du Drecksack!
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