„Schau, was er macht, der Trottel“, flüstert mir der Joker ins Ohr; ganz so, als ob es nötig wäre zu verhindern, dass die beiden vor uns am Tisch auf uns aufmerksam würden. Dabei können die uns doch gar nicht hören, weil es uns beide gar nicht geben kann. Weder den Joker noch mich. Zumindest nicht in diesem Kontext.
Es ist nämlich so, dass dort am Tisch in diesem merkwürdig antiquiert eingerichteten Raum zwei Herren sitzen, beide in militärischen Uniformen, einer in Grau, der andere in Blau. Den einen, den in der grauen Uniform, den würde jede(r) von Ihnen sofort wiedererkennen. Er trägt eine merkwürdige Föhnfrisur in orange-gelber Färbung und heißt Donald. Also nicht Duck, aber immerhin Donald.
Den anderen in der blauen Uniform würden Sie wahrscheinlich nicht erkennen. Das bin nämlich ich. Interessanter Weise bin ich in der Lage, mir selbst dabei zuzusehen, wie ich mit Donald Schach spiele. Und neben mir steht dieser verrückte Kerl mit einer mehrzipfligen Mütze auf dem Kopf, an deren Enden kleine Messingschellen angenäht sind. Der Joker eben. Natürlich nehmen weder Donald noch ich Notiz von uns beiden. Sie können uns weder sehen noch hören; aber das hab ich ja schon geschrieben.
„Schau, was er macht, der Trottel“, raunt mir also der Joker zu. Mit Trottel meint er mich, also mein anderes ich, das in der Uniform. Mein uniformiertes Ich hat sich nämlich von seinem Stuhl erhoben, ist ans Fenster getreten und kehrt Donald den Rücken zu.
Der nutzt natürlich die Gunst der Stunde und rückt seinen ungedeckten Springer, den ich im nächsten Zug wahrscheinlich geschlagen hätte um ein Feld zur Seite.
„Bei Donald musst Du immer mit dem Schlimmsten rechnen“, murmelt der Joker. „Dem fehlt jedes Unrechtsbewusstsein. Wenn er ein Problem hat, sorgt er dafür, dass sein Problem so schnell wie möglich das eines anderen wird.“
„So eine Arschgeige“, gebe ich zurück, beuge mich vor ans Spielbrett und rücke Donalds Springer wieder auf das ursprüngliche Feld zurück.
Es dauert einen Moment, bis Donald auffällt, dass sein Betrugsversuch rückgängig gemacht wurde. Erschrocken blickt er sich um, bemerkt, dass mein anderes Ich noch immer mit dem Rücken zu ihm am Fenster steht, und schubst den Springer erneut um ein Feld nach rechts.
Der Joker kichert. Er weiß, was jetzt kommt. Mit seinen nicht vorhandenen, durchsichtigen Händen bedeckt er Donalds Augen, so dass ich unbemerkt die Springermanipulation zum zweiten Mal korrigieren kann.
Jetzt treten Schweißperlen auf Donalds Stirn. Unstet wandert sein Blick zwischen Schachbrett und dem Rücken meines anderen Ichs hin und her. Er versucht es ein weiteres Mal …
Insgesamt sieben Male muss ich Donalds Springer von unterschiedlichen Feldern wieder auf seine Ausgangsposition zurück setzen, bevor der Kerl die Nerven verliert.
„Scheißspiel!“, brüllt er, springt auf und reißt dabei den Tisch mit dem Schachbrett um.
Erschrocken dreht sich mein anderes Ich um und betrachtet die über den Teppich rollenden Schachfiguren.
„Du Fake-Arsch!“, raunzt Donald sein Gegenüber an, „wolltest mich wohl über den Tisch ziehen. Aber ich lass mich nicht über den Tisch ziehen. Doch nicht von einem bloody german!“
„Siehst Du?“ Diesmal bin ich es, der sich an den Joker wendet. „Siehst Du, das hat er nicht auf der Rolle. Dass es ein Schicksal gibt, das er nicht austricksen kann, und das dafür sorgt, dass er nicht mit allen seinen Schurkereien durchkommt.
„Abwarten“, gibt der Joker zurück, der bereits ein paar Sekunden weiter gedacht hat. Und tatsächlich hat er recht, denn plötzlich zieht Donald einen Revolver unter seinem Rock hervor, richtet den Lauf auf mein anderes Ich und drückt ohne zu zögern den Abzug durch.
Der Schlagbolzen der Waffe jedoch erzeugt nur ein klickendes Geräusch. – „Wie gut, dass ich vorhin die Patronen aus der Trommel genommen habe“, flüstert der Joker und zeigt mir die sechs Messingzylinder in seiner Hand.
Doch in diesem Augenblick dreht Donald komplett durch. Er stößt einen gurgelnden Laut aus, wirft den Revolver auf mein anderes Ich und greift nach einem Degen, der zu Dekozwecken an einer der Wände im Raum angebracht ist. Mit einem irren Schrei stürzt er sich auf mich. Also auf mein anderes Ich, das eben noch nach hinten taumelnd dem Revolver ausweicht.
Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, mein anderes Ich zur Seite zu stoßen, so dass Donald mit dem vorausgereckten Degen an ihm vorbeirauscht, ohne es zu verletzen.
Im allerletzten Sekundenbruchteil packt der Joker den Stiefelabsatz meines anderen Ichs und hebt das Bein ein paar Zentimeter nach oben. Donald stolpert über meinen Stiefel, gerät darüber aus dem Gleichgewicht und bricht durch das splitternde Fensterglas nach draußen. Sein gellender Schrei wird leiser, versiegt schließlich, als Donald in den unendlich tiefen Abgrund jenseits des Fensterrahmens stürzt.
„Puh, was für ein Irrer.“ Das sind die ersten Worte, die ich mein anderes Ich sagen höre, und zugleich auch die letzten, bevor ich … also es durch eine Türe hinaus auf die Veranda tritt, wo es von einer riesigen Menschenmenge im monströsen Aufschrei willkommen geheißen wird.
Der Joker und ich stehen Seite an Seite an der Verandschwelle und blicken auf den Aufmarsch Zehntausender hinaus, die weit unten vor der Veranda toben wie im gemeinschaftlichen Crackrausch. Vor uns mein anderes Ich, und neben ihm so ein dürrer Kerl in schwarzem Frack und einem rot-weiß geringelten Zylinder auf dem Kopf. Abraham Lincoln!
Lincoln reißt meinem anderen Ich den Arm nach oben wie der Ringrichter einem siegreichen Preisboxer. Das chorische Brüllen der Massen schwillt noch einmal bedrohlich an, und dann kreischt es Lincoln mit sich überschlagender Stimme hinaus ins gleißende Licht:
„Habemus papam!“
~
(Foto von 1887, via Vintage Everyday)