Mein Besuch unlängst in Turin hat die ganzen Geschichten wieder in meinen Gedanken hochkochen lassen. Es ist aber auch zu unwahrscheinlich, dass der reine Zufall mich über dreißig Jahre nach der apokalyptischen Frankreichreise der Valley-Riders wieder an die gleiche Stelle zurückführte, an der die Laimer Brösel damals einem Ende entgegen strebten. Das hat schon eher ‘was von Karma.
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Nach der Trennung von Handy, Rita und dem Rest der Truppe im Sommer 1986 hatte ich mich ans Mittelmeer durchgeschlagen und dort ein paar Holländer getroffen, denen ich mich in Richtung Italien anschloss. Luuk, Finn, Daan, Tess und Merle waren zu fünft in einem rostigen, handbemalten VW-Bus, einem Relikt aus den Siebziger-Hippie-Zeiten unterwegs, in dem mengenweise loses Gepäck, Konservendosen, volle und leere Flaschen während der Fahrt zwischen den Passagieren umher rutschten und rollten.
Übernachtet wurde in Grüppchen: Tess und Daan waren ein Paar, Finn und Luuk vom anderen Ufer. Diese vier teilten sich je zu zweit ein kleines Zelt, während Merle, die ohne Boyfriend unterwegs war, auf der Rückbank des Busses schlief. Ich legte meinen Schlafsack meist unter die Markise des Busses, direkt neben die offen stehende Schiebetüre. Wie so eine Art Wachhund. Vielleicht knurrte ich ja nachts im Schlaf?
Grrrff!
Wir gondelten schlingerten die Côte d’Azur entlang in Richtung Osten. Selten schafften wir mehr als dreißig oder vierzig Kilometer am Tag. Wir schliefen lang, so lange jedenfalls, wie die Hitze es zuließ, begannen die Tage mit Kaffee, Joints und Croissants. Meist hatten wir mittags schon ein, zwei Bier intus, bevor wir uns auf den Weg machten. Abends Bier & Wein, noch mehr Joints (die Holländer hatten schier unerschöpfliche Gras-Vorräte unter der Rückbank des Busses gebunkert), Witze und Geblödel, bis irgendwann alle zu ihren Schlafplätzen torkelten oder krabbelten.
Die Holländer sangen viel. Luuk spielte Gitarre, und sie kannten alle die Texte auswendig. Ich sang nie mit. Allein schon, weil ich weder Niederländisch sprach noch singen konnte. Aber ich hörte den anderen gerne zu. Besonders Merle hatte eine glockenklare Altstimme, die mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter laufen ließ. Vor allem einen Song von Bram Vermeulen mochte ich: Jij En Ik. Natürlich verstand ich kein Wort, aber irgendwann kapierte ich immerhin, dass das „du und ich“ hieß. Immer wenn dieses Lied gesungen wurde, schaute ich über das Lagerfeuer hinweg rüber zu Merle und versuchte ihren Blick einzufangen.
Merle. Sie hieß zwar wirklich so, und ich dachte zu Anfang, der Name hätte etwas mit dem französischen Wort für Amsel zu tun. Eine Singamsel war das Mädchen auf jeden Fall.
Im echten Leben, also jenseits aller Vorstellungsrunden, wurde Merle aber von den anderen Vieren nur Zebra genannt. Eigentlich fies, denn das Mädchen litt an Vitiligo, im Volksmund auch Weißfleckenkrankheit oder Scheckhaut genannt. Überall auf dem Körper hatte sie helle Flecken und Streifen, die sich von der Sonnenbräune ihres Körpers auffällig absetzten. – „Zebra“, das traf es ziemlich gut, und Merle nahm nicht den geringsten Anstoß daran, so gerufen zu werden.
(Sie war für ihre fünfundzwanzig Jahre ohnehin eine enorm selbstbewusste junge Frau, und dass sie an Vitiligo „litt“, wie ich schrieb, ist nicht richtig. Merle litt nämlich nicht unter ihrer äußerlichen Besonderheit. Eher schon kokettierte sie damit. Irgendwann fragte sie mich sogar, ob ich nicht neugierig sei, ob sie diese Flecken überall am Körper hatte.)
Zebra hatte kurze Beine. Kurze Beine, die in zwei runde Hinterbacken mündeten. Das gefiel mir. Lange Beine „bis zum Himmel“, so wie sie das geltende Schönheitsideal vorschrieb und -schreibt, haben mich nie angemacht. Ich sah Zebra gerne nach, wenn sie in Flip-Flops, Bikinihöschen und T-Shirt auf ihren Wunderstumpen irgendwohin schlenderte; auf die Toilette oder zum Camping-Supermarkt, um Nachschub an Dosenbier oder Nudeln zu besorgen.
„Glotz nicht so!“ Daan grinste mir zu, boxte mir in einer Spaßgeste auf den Oberarm und hielt mir eine Dose kalten Kronenbourgs hin, die er aus der Kühlbox geangelt hatte, aus dem Schatten neben dem VW-Bus. „Trink lieber noch ein Döschen, das hilft.“ Sein meckerndes Gelächter, das nun wie so oft während der Reise folgte, werde ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen.
Aber ich wollte mich gar nicht besaufen. Ich hatte echt Spaß daran, Zebra auf den Hintern zu starren. Ein echter Hingucker, dieses Mädchen. Und im vergangenen Jahrhundert dachte noch niemand daran, einen #MeToo-Aufschrei loszulassen, wenn ihr ein Kerl hinterher schaute.
Natürlich merkte Zebra, dass sie mir gefiel. Aber sie tat nichts dafür, mich auf andere Gedanken zu bringen. Im Gegenteil, wenn sie wusste, dass ich sie ansah, bewegte sie sich besonders aufreizend, so bildete ich mir das zumindest ein.
Außerdem versäumte sie es nie, mich morgens in meiner Hundehütte meinem Schlafsack vor dem Bus aufzuwecken, bevor sie langsam und mit wiegendem Hintern von unserem Standplatz zum Waschraum schlappte.
Wenn abends ein Joint die Runde machte, gab ihn Zebra immer an mich weiter, nachdem sie einen tiefen Zug genommen hatte und dabei den Blickkontakt mit mir nicht abreißen ließ.
Natürlich bekamen die anderen mit, dass Zebra und ich uns anhimmelten. Einen unserer besonders langen Schmachtblicke kommentierte Tess, die an diesem Abend schon völlig breit und hin & weg war, mit einem berüchtigten Fernsehzitat: „Zegt u het maar neuken!“ Daraufhin brachen alle in wieherndes Gelächter aus, nur Zebra lief zartrosa an und bewarf die Freundin mit ihren Flip-Flops.
Später klärte mich einer der Jungs auf, dass damals ein niederländisches Reporterteam durch die Innenstädte spaziert war und Passanten vor laufender Kamera lautstark dazu aufgefordert hatten, Ihnen ein Reizwort nachzusprechen. Ganz Holland lachte wochenlang über die unsäglichen Reaktionen der Angesprochenen:
„Jetzt sagen Sie doch einfach mal FICKEN!“
Es war (Merle, ihren Freunden, mir und wahrscheinlich auch längst Euch) klar, dass Zebra und ich zueinander fanden. Irgendwann waren wir soweit, die Rücksitzbank des Busses jeden Abend umzuklappen und das Gefährt sanft in die Nächte hinein schaukeln zu lassen.
Auch tagsüber, während der kurzen Fahrten von Standort zu Standort, schloss sich Zebra mir an, überließ den zwei anderen Paaren den zugemüllten Bus und fuhr hinten auf meinem Bike mit; in abgeschnittenen Jeans-Shorts und T-Shirt.
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Es waren wunderbare, träge dahin kullernde Tage und Wochen, in denen wir in kurzen Etappen von Campingplatz zu Campingplatz zogen, schließlich bei Ventimiglia nach Italien hinüber kreuzten, alle französischen Francs in italienische Lire umtauschten und mit einem Schlag Millionäre waren.
Außer Währung und Sprache änderte sich nicht viel. Der Rotwein hieß jetzt nicht mehr vin rouge sondern vino rosso. Außerdem tranken wir den zweiten Kaffee morgens ab jetzt mit einem Schuss Amaretto.
Immer die ligurische Küste ging es entlang: San Remo, Savona, Rapallo und irgendwann Pisa, wo wir ins Landesinnere abbogen, um uns über Florenz in Richtung Verona zu halten. Aus nicht mehr so ganz nachvollziehbaren Gründen knickte dort unsere Route zurück nach Westen ab, und eine Woche später landeten wir in Turin.
Ich glaube mich zu erinnern, dass Finn und Luuk schwule Freunde in der italienischen Stadt am Po hatten. Nur so kann ich mir erklären, warum wir letztlich dort in einer Wohnung landeten, in der ein Claudio und ein außergewöhnlich weiblich wirkender junger Mann namens Guglielmo zusammenlebten.
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Wie gesagt, genau diese Wohnung und auch die beiden Schwulen hatte ich per Zufall über dreißig Jahre später wiedergefunden. Wieso konnte ich mich an die beiden erinnern, Claudio und Guglielmo jedoch ihrerseits nicht an mich?
Nun ja, zum einen hatte ich den Standortvorteil; ich kannte ja die Wohnung, auch wenn sie in den Achtzigerjahren ziemlich chaotisch, völlig anders eingerichtet und dekoriert war als heute. Und zum anderen hatte mein damaliges Ich sehr wenig mit dem zu tun, das man heute sieht, wenn man mir gegenüber steht.
1986 muss ich wohl um die einhundertzehn, -zwanzig Kilo gewogen haben, bei über eins neunzig in Stiefeln, mit breiten Schultern und Stiernacken. Die langen Haare hatte ich zu lockeren dünnen Zöpfen geflochten, die ich mit mehreren Lederriemchen in einen dicken Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Den Rest des Schädels hatte ich kahl rasiert oder ließ ihn haarstoppelig. Dazu kam ein breiter Fu-Manchu-Bart, das „Tier unter den Schnauzern“, fies und wild wie Hulk Hogan. Meine Kleidung bestand aus ölfleckigen Jeans, T-Shirts und einer Jeanskutte mit einem Valley-Schriftzug auf dem Rücken. – Alles in allem: Keine angenehme Erscheinung, kein Kerl, dem man nachts gern allein im Finstern begegnet wäre.
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Guglielmo und Claudio feierten von Donnerstag bis Sonntag durchgehende Partys in ihrer Wohnung. Alkohol floss in Strömen, und es waren auch viele, viele bunte Smarties zu haben, wenn man das nötige Kleingeld dafür einstecken hatte oder einen solventen Gönner fand. Alles normal für die damalige Zeit. Lucy In The Sky With Diamonds.
Gäste kamen und gingen, es tauchten Typen auf, die niemand kannte, nicht einmal die beiden Chefs. Ich erinnere mich an zwei schmierige Italo-Kerle in schwarzen Klamotten und mit pomadigen Brisk-Frisuren, die irgendwann in den frühen Morgenstunden an unserem zweiten Wochenende in Turin aufkreuzten.
Die beiden waren fiese Gestalten, die nicht nur mir unangenehm auffielen. Offenbar waren sie auf Streit aus. Erst legten sie sich mit Claudio an, indem sie ständig Guglielmos „weibisches Gehabe“ nachäfften. Und dann verstiegen sie sich in abartige Kommentare über Zebra, „das Streifenvieh“, la bestia zebrata.
Luuk und Finn merkten, dass mein Blutdruck rasch in Richtung zweihundert stieg, und wollten Merle und mich aus der Wohnung bugsieren. Aber dafür war es zu spät.
Als einer der geifernden Pomadenheinis Merle an die tette striate griff, hatte er Sekunden später meine Faust im Hals stecken. Sofort hielt der andere ein Klappmesser in der Hand und ging damit auf mich los. Claudio wollte dazwischen, bekam aber einen Messerschnitt am Oberarm ab. Blut spritzte, Guglielmo kreischte hysterisch. Es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf ich zunächst den Messerstecher massakrierte und anschließend noch drei weitere Freunde der schmierigen Mischpoke in Arbeit nahm, bis sie alle mit blutigen Nasen reglos auf dem Fußboden lagen.
La pula! – „Die Bullen!“, schrie irgendjemand. Daan zerrte mich die Treppe nach unten, bevor ich in meinem Adrenalinschub noch mehr Unheil hätte anrichten können, und gerade als ich auf der Yamaha saß, stoppten zwei Polizeiautos vor der Haustüre und acht Carabinieri stürmten das Treppenhaus. Wir machten uns ohne Umschweife aus dem Staub.
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Tatsächlich gelang es allen fünf Holländern und mir, aus Turin heraus zu kommen, ohne von der Polizei aufgehalten zu werden. Ich folgte dem VW-Bus, bis wir an der Autopista nach Mailand an einem Rastplatz anhielten. Merle schlotterte am ganzen Leib, als ich sie in die Arme nahm. Das war ein bisschen zu viel für sie gewesen in der letzten Stunde.
Wir beschlossen, Italien so schnell wie möglich zu verlassen. Niemand hatte Lust, in polizeiliche Ermittlungen verwickelt zu werden; Luuk war geradezu elektrisiert wegen der verbliebenen Grasreserven unter der Rückbank.
Nach einigem Hin und Her packte Zebra ein paar Sachen in meine Reisetasche, mein Schlafsack musste im Bus zurück bleiben. Die vier anderen wollten an Turin vorbei direkt in Richtung Norden, auf kürzestem Wege über den Sankt Bernhard in die Schweiz. Zebra und ich fuhren auf der Yamaha ins Morgengrauen hinein weiter über Mailand und dann nach Norden, am Ostufer des Lago Maggiore entlang bis Tenero, ebenfalls in der Schweiz, kurz hinter der italienisch-schweizerischen Grenze.
Dort blieben wir eine Nacht auf einem großen, unglaublich sauberen Campingplatz. Am nächsten Tag fuhren wir sehr früh morgens weiter, durch den Sankt-Gotthard-Straßentunnel, der erst ein paar Jahre zuvor eröffnet worden war. Ich spüre es noch heute: Es war glühend heiß im Tunnel, an die vierzig Grad.
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Spät nachts kamen Zebra und ich – nach mehr als fünfhundert Kilometern Fahrt zu zweit auf einer kurzen Motorradsitzbank – gerädert in München an. Wir verbarrikadierten uns regelrecht in meiner kleinen Laimer Wohnung: Niemand bekam mit, dass ich nach monatelanger Abwesenheit zurück war. Weder meldete ich mich bei meiner Familie oder meinen Schulfreunden, zu denen ich damals ohnehin nur losen Kontakt gehalten hatte. Noch schaute ich im Valley vorbei, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was aus meinen Biker-Freunden nach der Episode am französischen Atlantik geworden war.
Mein Telefonanschluss war ohnehin stillgelegt worden, nachdem ich seit Mai keine Rechnung mehr bezahlt hatte.
Wir taten, was uns in jener Zeit am meisten interessierte: Wir erforschten die Zebrastreifen an den Stellen des Körpers meiner Freundin, die normalerweise kein Tageslicht sahen. Und wenn uns doch einmal die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, fuhren wir hinaus an einen kleinen, wenig bekannten Badesee im Norden Münchens oder mischten uns in einem der großen Biergärten der Stadt unters Volk.
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Ich frage Euch: Was glaubt Ihr, wie lange kann das gut gehen? Wie viele Wochen oder Monate können zwei junge Menschen so ein Leben aushalten? Wie lange dauert es, bis Unzufriedenheit und der Wunsch nach früher Altbewährtem oder nach gänzlich Neuem diese zwei Menschen rastlos werden lassen?
In unserem Fall dauerte es bis September, bis der Sommer zu Ende ging und uns die kühlen Herbstnächte noch mehr als bis dahin in meiner Bude einschlossen. Am Montag nach dem ersten Oktoberwies’n-Wochenende stand Zebra mittags in meiner Wohnküche, als ich aus dem Bad kam und Kaffee aufsetzen wollte. Sie hatte einen Jutebeutel mit ihren Habseligkeiten geschultert.
„Ich muss gehen, Brösel“, sagte sie tonlos, mit Tränen in den Augen.
Da sind diese Momente im Leben, in denen man weiß: Etwas muss geschehen, etwas muss sich ändern. Es kann nicht so weiter gehen wie bis dahin. Da kann man noch so verliebt (gewesen) sein, irgendwann wird das weniger wichtig, der Rest der Welt dafür wieder um so mehr.
Zebra-Merle wollte zurück nach Heerlen. Zurück zu ihrer Familie, zu ihren Freunden, in ihr altes, bewährtes Leben. Und ganz ehrlich: Auch ich vermisste mein früheres Leben. Ich wollte endlich wissen, was aus Handy, Rita und den anderen geworden war. Und ich wollte im November einen neuen Anlauf auf mein Informatikstudium nehmen.
Unsere Leben trennten sich an dieser Stelle, auch wenn das weh tat. Wir waren ein gutes Vierteljahr gemeinsam gegangen. Wir waren uns nicht über, ganz gewiss nicht. Aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an einer Weggabelung unterschiedliche Richtungen einzuschlagen.
Mach es gut, Merle …
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[lightgrey_box]Für alle, die neugierig auf die Gestalten aus den Laimer Bröseln sind, gibt es eine kleine Galerie mit Portraitzeichnungen von Rita und den Jungs aus dem Valley.[/lightgrey_box]