Rudi & der Sprechdurchfall

Kennengelernt habe ich Rudi vor etwa zwei Jahren. Ich war auf dem Fußweg, diesen guten Kilometer von meinem Zuhause zum Büro bei den Geistesmenschen. Da kam er mir entgegen, winkte mir enthusiastisch schon aus hundert Metern Entfernung. Ich überlegte noch, woher ich diesen Kerl kennen könnte, weil auch nach hektischem Umsehen außer mir und ihm niemand weit und breit zu sehen war. Als wir dann auf gleicher Höhe waren, rief er laut Hallo. Vorsichtshalber grüßte ich zurück, obwohl ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer der Mann war:
Ein Mensch um die fünfzig, Wollmütze auf dem Kopf, obwohl wir fast zwanzig Grad hatten. Parka und Rucksack. Rübennase im Gesicht, wässrig graue Augen. Keine gewinnende Erscheinung.

Die Erwiderung seines Grußes durch mich nahm der Mensch zum Anlass, sofort kehrt zu machen und an meiner Seite den Weg zurück zu laufen. Ganz so, als seien wir alte Bekannte, die sich seit Monaten nicht mehr gesehen hatten. Dabei redete er ohne Unterlass auf mich ein.

„Hey, hab ich Dir schon erzählt?“ – Natürlich hatte er mir noch nichts erzählt. Ich wusste ja, verdammt nochmal, nicht einmal, wer er war. – „Ich bin gerade auf dem Weg zu meiner Mutter. Die sagt immer, Rudi, sagt sie, Du musst pünktlich sein. Ich kann nicht immer stundenlang auf Dich warte. Und da hat sie ja auch recht, die Mama. Aber heute bin ich pünktlich, ganz bestimmt. Ich bin rechtzeitig losgelaufen. Und es ist ja auch nicht mehr weit, sag ich Dir. Oder? Stimmt doch? Sag mal!“

Bis dahin hatte ich versucht, diesen Verrückten zu ignorieren. Er musste verrückt sein, denn inzwischen war mir sonnenklar, dass ich ihm noch nie zuvor begegnet war. Was wollte der bloß von mir? Kannte der keine Distanz? Oder verwechselte er mich mit einem Bekannten?
Jedenfalls blieb ich stehen und blickte ihm in diese wässrigen Grauaugen, sah die Pickel auf seiner Rübennase: „Hör zu, Rudi, ich kenn Dich zwar nicht. Aber wenn Du rechtzeitig bei Deiner Mama sein willst, wäre es wahrscheinlich besser, wir brechen unser Gespräch jetzt & hier ab und Du drehst wieder um. Deine Mutter wohnt doch bestimmt in diese Richtung, oder?“ Ich deutete nach oben, dorthin, wo wir beide gerade herkamen. „Mama?“

„Ach was, Mama kann warten“, erwiderte Rudi ungerührt. „Ich bin ja schon alt genug. Und in meinem Rucksack hab ich auch alle Sachen, die sie mir waschen will. Alle bis auf die Socken. Die hab ich vergessen. Macht aber nichts.“
Ich warf einen Blick auf den Rucksack. Er war flach, wirkte eher leer. Viel konnte da nicht drin sein. Wahrscheinlich hatte Rudi außer den Socken noch ein paar andere Dinge vergessen. Aber das war ihm wohl egal, er war längst schon beim nächsten Thema.

„Und geputzt wird dann heut Nachmittag, sag ich Dir. Und wie! Blitzeblank, alles. Da bin ich echt gut. So richtig gut. Boah! Erst die ganze Wäsche in den Rucksack. Und dann staubsaugen. Ich hab ja jetzt einen eigenen Staubsauger. Da steht SIE-MENS drauf. Einen echten Siemens. Gut, oder? Was steht denn auf Deinem Staubsauger?“
Ich verdrehte die Augen. Der Kerl ging mir auf den Sack.
„Na, sag schon. Was steht auf Deinem Staubsauger? Heraus mit der Sprache. Oder hast Du vielleicht keinen? Keinen Staubsauger? Ich kann Dir meinen leihen, wenn Du keinen hast. Einen SIE-MENS!“
Puh! – „Also nur, dass Du es weißt, Rudi“, gab ich irgendwann verzweifelt zurück, „auf meinem Staubsauger steht Vorwerk.“
„Aha, aha, aha …“ Da blieb bei ihm mit einem Mal die Schallplatte hängen. „V-O-R-W-E-R-K. Aha, aha, aha …“

Damit blieb Rudi plötzlich stehen, blickte mich verwirrt an. Und ich ging einfach weiter. Das wurde mir echt zuviel. Und ich musste schließlich ins Büro.

~

Seither habe ich Rudi einige Male wiedergetroffen. Immer im Parka, mit Rucksack und Wollmütze, egal zu welcher Jahreszeit. Mal auf offener Straße, mal an der U-Bahn-Haltestelle. Er muss auch irgendwo hier in der Gegend wohnen.
Manchmal grüßt er nur überschwänglich, wie bei unserem ersten Mal, und geht dann einfach an mir vorbei. Manchmal erzählt er mir auch wieder ungebeten von seinen Wäschesituationen.

Manchmal spricht Rudi andere Menschen an. Aber alle wenden sie sich nur wortlos ab, wenn Rudi mit großem Hallo auf sie zugeht. Ich hingegen bin dazu übergegangen, jedesmal freundlich seinen Gruß zu erwidern und dann zu fragen:
„Wie geht’s denn Deiner Mama, Rudi?“
Und dann dreht sich wieder ungebremst die Schallplatte. „Oh, der geht’s gut. Sie will mir heut die Wäsche waschen. Aber ich hab die Socken vergessen.“

Ab dann brauche ich nichts mehr zu sagen. Rudi findet immer irgendein Thema, mit dem er mich zutexten kann. Ich brauche nur freundlich zu lächeln, und er macht solange weiter, bis dann unweigerlich der Moment kommt, in dem seine Platte hängen bleibt und er sich wieder abwendet.

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Ich glaube, dieses Phänomen nennt man Logorrhoe. Oder im Volksmund auch Sprechdurchfall. Jedenfalls sorgt es dafür, dass Rudi fast schon zur Familie gehört. Sein Staubsauger kommt aus dem Hause Siemens; sein Bankkonto hat er bei der Sparkasse (ja, er hat jetzt sogar ein eigenes Bankkonto! Und seine PIN hat er mir auch längst verraten); seine Mama heißt Ilse und muss eine Engelsgeduld besitzen; er würde gern auch mal wählen gehen, die Frau Merkel, darf er aber nicht; er ist fünfundfünfzig, meistens jedenfalls, manchmal ist er auch nur achtundvierzig. Außerdem mag Rudi Helene Fischer.

Seid Ihr schon mal mit jemandem durch die Straßen gezogen, der über fünf Minuten hinweg neben Euch in Wollmütze und Parka lauthals und superfalsch „Atemlos“ singt kreischt?

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Ich befürchte, Rudi wird mir fehlen, wenn er mal irgendwann nicht mehr unverhofft auftaucht.

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