Papierlos lesen (4)

Papier ist geduldig, ein äußerst lesenswerter Beitrag von Lukas Heinser über das Für und Wider gedruckter und digitaler Texte unterschiedlicher Medien.

Es ist bescheuert, Texte auf einer Fläche lesen zu wollen, die kleiner ist als mein Handteller, und wir werden vermutlich eines Tages alle dafür bezahlen. Aber es ist auch so herrlich praktisch, in der S-Bahn, im Café oder morgens noch vor dem Aufstehen im Bett zu lesen, was gerade in der Welt passiert. Ein Buch würde ich so nie lesen wollen, aber Nachrichten? Warum nicht!

Der gesamte Beitrag ist deutlich länger als dieses kurze Zitat, aber trotzdem unbedingt empfehlenswert für alle, die dabei sind, sich ihre eigene Meinung zu bilden. – Ach ja, und nach dem Artikel unbedingt die ausführlichen Kommentare weiterlesen.

Das Ministerium der verlorenen iPads

Spanien hat es derzeit nicht leicht: Die Sparmaßnahmen der Regierung Rajoy treffen die Bürger mit Wucht. Die Arbeitslosenzahlen liegen in Bereichen, die uns in Deutschland eiskalt erschauern lassen würden. Die Folgen der Finanzierungskrise für Wohnungseigentum führen immer häufiger zu Enteignung und Rauswurf zahlungsunfähiger Eigentümer. Die Leute stehen nicht nur auf der Straße sondern gehen in Scharen auf dieselbige, um zu protestieren. Und zu allem Überfluss erlebte Madrid unlängst sein spanisches Dortmund, als bei einem Popkonzert in einem Arenadurchgang eine Rakete gezündet wurde und bei der folgenden Massenpanik Tote und Schwerverletzte zu beklagen waren.

Die iberische Volksseele kocht, und da kommt eine Nachricht aus dem Kongress gerade recht:
Die 350 Abgeordneten waren zu Beginn der Legislaturperiode allesamt mit iPads ausgestattet worden. Doch die Geräte scheinen dem Red-Bull-Effekt zu unterliegen und Flügel zu bekommen. Mehr und mehr Parlamentarier meldeten ihre Edeltablets als verloren. Da fragt sich die Wählerschaft, ob die Damen und Herren Volksvertreter schlicht zu blöde oder womöglich kriminell sind.

Caducahoy berichtet, dass nun keine Ersatzgeräte mehr gestellt werden und die IT-Abteilung durchblicken ließ, dass der Aufenthaltsort der verschwundenen iPads per Softwareabfrage bestimmt werden könne. Auf mysteriöse Weise sei daraufhin eine ganze Menge der Verlustposten im „Ministerium der verlorenen iPads“ wieder aufgetaucht. – Honni soit qui mal y pense.

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La palabra del día, das Wort des Tages: Chorizo bedeutet im Spanischen nicht nur „Wurst“ sondern umgangssprachlich auch „Gauner“.

Rote Lippen sollst Du küssen

Küsse, Servietten und die Ränder von Trinkgläsern nehmen einen Teil der Farbe auf, die auf Frauenlippen aufgetragen wurde. Den größten Teil dieser Farbe aber schluckt die Besitzerin der Lippen selbst: bis zu vier Kilogramm (das entspricht der Farbmenge von zirka tausend Lippenstiften) können im Magen einer Frau im Laufe ihres Lebens enden. Glücklicherweise schaden die Inhaltsstoffe – Öle, Wachse, Pigmente – nicht der Gesundheit.

Wohl bekomm’s! ¡Que aproveche!

(via Peluche)

Ach, Du liebes Finanzamt!

Vor einigen Monaten rief ich die Steuerberaterin an und sagte: „Ich habe jetzt alle Unterlagen für die Steuererklärung beisammen. In den nächsten Tagen bringe ich Ihnen das alles vorbei. Wann haben Sie Zeit?“ Die beste Steuerdame von allen antwortete: „Wenn Sie wollen, Herr Wortmischer, können Sie die Bescheinigungen auch gerne per Fax schicken. Wir reichen neuerdings alle Unterlagen beim Finanzamt digital ein, die Originale brauchen wir nur, falls das Amt Stichproben machen will.“

Ich war begeistert. Denn natürlich hatte ich längst alle Bescheinigungen für meine eigene Ablage PDF-isiert. Fünf Minuten später hatte die Steuerberaterin alle Unterlagen säuberlich als E-Mailanhänge im Postfach, und ich konnte mir den Weg zur haptischen Papierübergabe sparen. Brave New World, wie einfach das moderne Leben doch sein kann! Hach!

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Am vergangenen Montag liegt ein großer Umschlag vom Finanzamt in meinem Briefkasten. Ziemlich dick, wie ich finde, sehr umfangreich für einen nicht so komplizierten Steuerbescheid. Ich fummle den Umschlag auf und entnehme ihm einen säuberlich gehefteten Papierstapel samt Anschreiben des Amtes:

Ihre Steuererklärung 2011

Sehr geehrter Herr Wortmischer,

hiermit werden Ihnen die vorgelegten Belege zur Prüfung zurückgesandt. Damit Sie etwaigen Abweichungen von den gemachten Angaben nachgehen können, wird empfohlen, die Belege zumindest solange aufzubewahren, bis die Einspruchsfrist abgelaufen oder ein etwaiges Rechtsbehelfs oder Änderungsverfahren abgeschlossen ist. […]

Moment mal, „die vorgelegten Belege zurückgesandt“? – Ich blättere den Stapel durch. Tatsächlich, der Finanzamtsknilch hat wirklich alle PDF-Belege ausgedruckt, nach Rubriken sortiert und mit handschriftlich beschrifteten Trennblättern unterteilt. Den ganzen Papierhaufen hat er gelocht und mit Hilfe eines Heftstreifens gebündelt.

Lasst Euch das mal auf der Zunge zergehen: Ich reiche meine Steuererklärung im Sinne der Ressourcenschonung in digitaler Form ein, das Finanzamt druckt alles aus, wahrscheinlich sogar in zweifacher Ausfertigung, und schickt mir meine ausgedruckten PDF-Dateien zur Entlastung zurück. – Orrr!

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Liebes Finanzamt, Ihr seid einfach die Größten.

Die Reise des Elefanten

Über reisende Elefanten könnte ich in vielerlei Hinsicht berichten. Und vielleicht sollte ich diesem Impuls einfach einmal nachgeben und ein bisschen erzählen. – Meine erste persönliche Erfahrung mit den Dickhäutern machte ich vor über dreißig Jahren. Ich war damals ein junger Kerl und Soldat bei der Bundeswehr. Eines Nachmittags im Hochsommer, ich war auf dem Weg in die Kaserne zum Schichtdienst und trug die Luftwaffenuniform mit dunkelblauer Hose und hellblauem, kurzärmeligen Hemd mit den Schulterklappen eines Gefreiten, kam ich am Lagerplatz eines Wanderzirkus vorbei. Auf einer Wiese hinter dem Zirkuszelt war ein indischer Elefant an einen Pflock im Boden gekettet. Das Tier wirkte lethargisch, wiegte vor und zurück. „Wie ein dickfüßiger, vierbeiniger Tangotänzer“, dachte ich bei seinem Anblick.

Ich hatte noch einige Stunden Zeit, bevor mein Dienst in der nahen Kaserne beginnen sollte, das Wetter war sagenhaft, und so setzte ich mich neben einen Burschen in meinem Alter auf einen der Heuballen, die am Rande der Wiese aufgestapelt waren. Wir kamen ins Gespräch, in dem ich erfuhr, dass der arme Kerl dazu verdonnert worden war, bis zur Abendvorstellung auf den Elefanten acht zu geben, obwohl er unbedingt noch einmal bei einem Mädchen vorbeischauen wollte, nein musste. Nach wenigen Minuten hatten wir uns darauf geeinigt, dass ich für den Burschen die Elefantenwache eine Stunde lang übernehmen würde, bis er von seinem Damenbesuch zurück wäre. – „Wenn Bimbo anfängt, Bäumchen auszureißen, dann hat er Hunger“, rief mir der Zirkuskerl im Gehen zu. „Dann musst Du ihm einen Heuballen geben, sonst kriegen wir Ärger mit der Stadtverwaltung.“
Aber Bimbo dachte nicht ans Bäumeausreißen. Er übte die nächste Stunde über mit bewundernswerter Ausdauer seinen Tangowiegeschritt. Ich sonnte mich sowohl in den Strahlen der Sonne als auch unter den bewundernden Blicken von Kindern, Familien und jungen Mädchen, die mich in meiner Uniform offenbar für einen Zirkusangestellten hielten, ganz sicher für den Elefantenführer, den Mahut. Was doch Schulterklappen auszurichten vermögen.
Leider aber kam der echte Mahut nach der vereinbarten Stunde nicht zurück. Nach einer weiteren halben Stunde – ich war immer noch alleine mit dem Elefanten – schlurfte Bimbo von mir weg in Richtung des Wiesenrandes auf der anderen Seite und wickelte seinen Rüssel um ein junges Bäumchen, das er mühelos aus dem Boden riss. Ein älterer Mann mit Gehstock, der seit ein paar Minuten neben mir stand, murmelte: „Jetzt wird er wild, oder?“ Ich grinste den Mann an: „Nein, er hat Hunger. Ich bringe ihm einen Heuballen.“ Stolz auf mein Wissen über Elefantenpflege entfernte ich die Plastikschnüre von einem der Ballen und warf ihn mit beiden Händen in Richtung des Elefanten, der mittlerweile an dem ausgerissenen Bäumchen lutschte und mich und den Heuballen nicht im Mindesten beachtete. Ich zögerte, nahm aber schließlich all meinen Mut zusammen, nahm den Ballen erneut auf und ging auf den Elefanten zu. „Bimbo!“, rief ich, „Bimbo, hier gibt’s Futter!“
Das Wort Futter schien Bimbo zu verstehen. Denn plötzlich drehte er sich zu mir um, trompetete laut und rannte auf mich zu. Ich bekam einen heillosen Schrecken, warf den Heuballen nach Bimbo und nahm meine Beine in die Hand. Am anderen Wiesenrand stand der Alte, wedelte mit dem Krückstock und brüllte: „Jetzt wird er wild! Jetzt!“ – Erst als ich wieder neben dem Alten stand, wagte ich es, mich wieder dem Elefanten zuzuwenden. Ich hätte gar nicht zu rennen brauchen. Bimbo hatte sich nicht für meine Flucht interessiert und war sofort neben dem fortgeworfenen Heuballen stehen geblieben, den er jetzt genüsslich zerpflückte.
Als der Zirkusmahut mit einer Verspätung von über einer Stunde und einer gemurmelten Entschuldigung zurückkam, saß ich längst wieder auf den restlichen Strohballen. „War was?“, fragte der Wärter. Ich schüttelte verneinend den Kopf ohne den Strohhalm aus dem Mund zu nehmen, auf dem ich lässig wie Lucky Luke herumkaute.

Fünfzehn Jahre nach dieser Begebenheit bekamen meine Holde und ich zu unserer Hochzeit den unten stehenden Elefanten von einem Freund geschenkt. Dieser hatte damals drei Elefanten aus Indien exportiert; einen aus Holz mit Intarsienarbeiten, den er uns nach Barcelona brachte, und zwei echte Elefanten, die er als Geschenk seines Arbeitgebers an den Tierpark in München übergab. Diese beiden echten Elefanten besuchten wir Jahre später, als unser Freund einen runden Geburtstag feierte und dazu ins Elefantenhaus des Münchner Tierparks einlud. An den Heimweg von dieser Elefantenparty habe ich schlechte Erinnerungen, weil wir in den frühen Morgenstunden den Parkausgang nicht fanden und die Holde beim Versuch, den Zaun zu überklettern, einen ihrer Finger an den Zinnen hängen ließ.

Die Reise des Elefanten

Sie sehen, ich habe einige Erfahrung mit Elefanten gesammelt, zumindest mehr als die meisten Mitteleuropäer. Deshalb maße ich mir an, eine Empfehlung zu Gunsten des Romans Die Reise des Elefanten auszusprechen, der im Jahr 2008 veröffentlicht wurde. Der Autor der Geschichte ist Portugiese, heißt José Saramago und ist seit 1998 Träger des Nobelpreises für Literatur. Die Elefantenreise ist der vorletzte Roman Saramagos vor seinem Tod im Jahr 2010, der vor allem im iberischen Kulturkreis große Trauer hervorgerufen hat.

Die Geschichte trug sich zu im sechzehnten Jahrhundert und setzt damit ein, dass Johann III. von Portugal und seine Gemahlin Katharina von Kastilien ein Hochzeitsgeschenk für den Vetter, den Erzherzog Maximilian von Österreich suchen:

… Die Königin murmelte ein erstes Gebet und wollte gerade ein zweites anstimmen, als sie unvermutet innehielt und fast verdutzt schrie, Wir haben doch Salomon, Was, fragte der König verdutzt, ohne der ungebührlichen Anrufung des Königs von Juda gewahr zu werden, Ja, mein Gebieter, Salomon, den Elefanten, Was tut der Elefant hier zur Sache, fragte der König, bereits leicht gereizt, Als Geschenk, mein Gebieter, als Hochzeitsgeschenk, antwortete die Königin und erhob sich euphorisch und überschwänglich, Es ist kein Hochzeitsgeschenk, Aber so etwas Ähnliches. …

Sehr schön, oder? – Ein ganzer Hochzeitsgeschenkfindungsdialog in einem einzigen Satz. Das ist die stilistische Spezialität dieses Romans, die mir ausnehmend gut gefällt. Eine waschechte Erzählung, die im Plauderton über 236 Buchseiten hinwegplätschert. Ich bin überzeugt, dass sich die Hörbuchversion des Romans eine tolle Erfahrung sein wird, auch wenn ich sie bisher noch nicht genossen habe.

Über die Reise des verschenkten Elefanten will ich gar nicht erst ins Schwadronieren geraten, nicht über die Reiseroute über Land und See von Lissabon nach Wien, nicht über die Gründe von Namensänderungen des Elefanten von Salomon nach Soliman oder des indischen Mahut von Subhro nach Fritz, der einst aus dem indischen Goa zunächst nach Lissabon und schließlich nach Wien verpflanzt wurde.

Am besten lesen Sie sie selbst, diese wunderbare Geschichte über die Spitzzüngigkeit des Mahut Subhro-Fritz, der das Leben so nimmt, wie es kommt, aber dank seiner Menschenkenntnis fast immer in der Lage ist, die Situation zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Ich gebe dem Roman auf jeden Fall alle fünf von fünf möglichen Sternen. Und das kommt sehr selten vor, das lassen Sie sich mal gesagt sein.

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Mein Name ist Bardem. Javier Bardem.

Ich sitze beim Frühstück, betastet mit der Zungenspitze meinen Backenzahn, den mit der eingelassenen Blausäurekapsel, und denke an Skyfall, den neuen Bond, den ich gestern mit Frau 1.0 und Tochter 3.0 gesehen habe.

Mit Abstand bester Darsteller: Señor Bardem in der Rolle des bösen, bösen Silva. – Lieblingsszene: Silva sitzt wie einst Hannibal Lecter in einer streng bewachten Vereinzelungszelle. Schließlich steht er auf, reckt sich und streckt sich, bis der Wächter abschätzig fragt: „Wollen Sie heute noch irgendwo hin?“ Silva wendet den Kopf, blickt den Wärter an und zieht gleichzeitig den Reißverschluss seines Overalls unternehmungslustig mit einem Ruck zu.

Dieser Blick, dieser Ruck! Unbezahlbar.