Tod im Altenheim

Tod im Altenheim

Hauptkommissar Król hatte schlechte Laune. Durch das Fensterglas des Büroraums im Altenwohnheim an der Hohemark am Fuße des Feldbergs bot sich ihm ein spektakulärer Blick auf den Herbstwald der mittelhessischen Taunushänge mit ihrer farbenprächtigen Mischung aus noch grünen, flammend roten, goldgelben und hellbraunen Blättern. Genießen konnte Król diesen wunderbaren Ausblick jedoch nicht.
In den vergangenen sechs Stunden hatte er mit elf Bewohnerinnen des Altenheims gesprochen und keine von ihnen hatte auch nur den geringsten Hinweis geben können, der ihm bei der Aufklärung seines Mordfalles hätte helfen können. Um fünf Uhr morgens hatte eine Altenpflegerin, die zur Frühschicht eingeteilt war, den Hausmeister der Heimanlage in einer Blutlache liegend vorgefunden. Der sofort herbeigerufene Polizeiarzt hatte die vorläufige Diagnose Tod durch Erschießen gestellt. Wolfgang Dinges, so hieß der Tote, war aus kurzer Entfernung rücklings abgeknallt worden, vermutlich mit einer Pistole, Kaliber 9 Millimeter. Wahrscheinlich war der Tod um Mitternacht eingetreten. Plus minus eine Stunde, hatte der Arzt geschätzt.

Dinges war in seinem Gerätekeller mit einem einzigen Schuss von hinten getötet worden, die Kugel hatte das Spurenteam der Kriminalpolizei später am Vormittag aus der Wand gepult. Neun Millimeter Parabellum, und niemand im ganzen Haus wollte etwas gehört haben? Król konnte es nicht glauben. Waren die wirklich alle schwerhörig? Oder hatte der Mörder Dinges‘ einen Schalldämpfer verwendet? War das hier das beschauliche Hessenstädtchen Oberursel, oder befanden sie sich in Neapel im Mafiakrieg? Wer in aller Welt erschießt den Hausmeister eines Altenheimes?
Die Kollegen hatten diesen Wolfgang Dinges natürlich sofort überprüft. Nichts. Keine Polizeiakte, völlig unbekannt in der Frankfurter Szene, noch nicht mal einen Strafzettel wegen Falschparkens hatte der bekommen in seinen neunundvierzig Lebensjahren. Auch die Durchsuchung seiner Wohnung hatte nichts Anrüchiges zu Tage gefördert, sah man einmal von drei abgegriffenen, zehn Jahre alten Playboy-Ausgaben in der Nachttischschublade ab. Dinges war weder verheiratet, noch hatte er Familie oder eine Freundin.

Der Hauptkommissar leerte den Pappbecher mit dem bitteren, kalt gewordenen Automatenkaffee und ging zur Türe, um die nächste Heimbewohnerin herein zu bitten. Er hatte die weiblichen Bewohner übernommen, seine Kollegin Conny Kunzendorf die Männer. Conny saß im Nebenzimmer und hatte dort bislang einen ebenso unergiebigen Vormittag verbracht wie Frank Król.

„Wie ist Ihr Name?“, fragte der Hauptkommissar die nächste potenzielle Zeugin.
„Ilse Bonhoff. Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und lebe seit fünf Jahren in diesem Loch. Seit mein Mann tot ist und die Kinder mich überredet haben, hierher zu ziehen und ihnen das Haus zu überlassen.“
Król blickte vom Schreibblock auf, wo er bislang nur die Namen seiner Gesprächspartner notiert hatte. Die Frau, die ihm gegenüber saß, war eine gepflegte Erscheinung und wirkte um viele Jahre jünger als achtzig.
„Kennen Sie Wolfgang Dinges, Frau Bonhoff?“
Sie musterte den Hauptkommissar mit misstrauischem Blick. „Meinen Sie diesen unangenehmen jungen Kerl, unseren Hausmeister, Herr Wachtmeister? Ja, den kenne ich. Wer kennt den nicht. Schließlich ist er den ganzen Tag im Haus unterwegs.“

Frank Król schluckte ohne Widerspruch den „Wachtmeister“ und hakte nach: „Wieso sagen Sie, dass der Mann unangenehm war? Hat er sich nicht anständig benommen? Hatte er Feinde im Haus?“
„Ach, wissen Sie, Herr Wachtmeister, es gibt eben Menschen, die einem liegen. Und andere, die man nicht mag. Das geht einem das ganze Leben lang so. Sie müssen mal nachts hierher kommen, Herr Wachtmeister. Nachts hören Sie die Käuzchen rufen. In meiner allerersten Nacht hier im Heim hatte ich schon eines rufen hören.“
Frau Bonhoff zupfte Wollkügelchen vom Ärmel ihrer Strickjacke, während sie erzählte.
„Wissen Sie, Herr Wachtmeister, dass Käuzchen Schicksalsboten sind? Wenn Sie ihre Rufe mitzählen, dann wissen Sie, wie viele Jahre Sie noch zu leben haben. Und ich habe mitgezählt in meiner ersten Nacht. Dreiundzwanzig Mal hat es gerufen. Dreiundzwanzig Jahre waren es damals noch, bis mich der Herr zu sich holen wird. Bis ich meinen Joschi wiederseh.“
Der Fußboden um den Stuhl, auf dem die alte Dame saß, war bereits bedeckt mit Wollmäusen, und noch immer zuppelte sie an den Ärmeln ihrer Jacke. Der Kommissar sah Frau Bonhoff mit gerunzelter Stirn an. War die Alte verkalkt und erzählte ihm Mist? Froh darüber, endlich jemanden zum Reden zu haben? Oder kam sie irgendwann doch noch auf den Punkt? Er beschloss, Frau Bonhoff zunächst nicht zu unterbrechen.

„Siebenundneunzig werd ich sein, wenn es zu Ende geht. Noch achtzehn lange Jahre, Herr Wachtmeister. Da ist es doch nicht zu viel verlangt, wenn ich mir wünsche, diese Zeit in Ruhe verbringen zu können. Ohne Lärm und ohne Krach. So oft hab ich es ihm gesagt. Bitte, hab ich gesagt, bitte, Herr Dinges. Bitte machen Sie nicht jeden Tag so einen argen Krach. Es gibt doch Rechen und Besen. Wir haben im Herbst doch früher auch jedes Jahr das Laub mit Rechen und Besen zusammengekehrt. Und keiner hat sich die Ohren zuhalten müssen. Und besser für die Natur war das auch noch! Die ganzen kleinen Viecherl im Boden, stellen Sie sich das einmal vor, Herr Wachtmeister! Die hat er doch alle weggeblasen mit seinem Ding, der Dinges.“

Jetzt hakte Król nach. „Frau Bonhoff, verstehe ich Sie richtig? Sie meinen, Sie mochten den Hausmeister nicht, weil er einen Laubbläser benutzte?“

„Genau, Herr Wachtmeister! Ganz genau. Ausgelacht hat er mich. Rechen und Besen, das sei mal gewesen. Zum Glück gäbe es heutzutage Laubbläser. Sonst würde er sich ja zu Tode schuften. Dabei hat der keine Ahnung davon, was es heißt, sich zu Tode zu arbeiten. Mein Joschi, der hat sich zu Tode gearbeitet. Fünf Jahre in Sibirien nach dem Krieg! Krank ist er heimgekommen, und ich war seine Pflegerin, und dann haben wir geheiratet und jetzt ist er tot.“
Frau Bonhoff wischte sich mit einem Stofftaschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie schniefte.
„Deshalb hab ich es gemacht, Herr Wachtmeister. Ich hätt den Dinges und seinen Laubbläser keine zwanzig Jahre mehr ertragen. Diesen unangenehmen Kerl.“

Frank Król riss die Augen auf. „Was genau haben Sie gemacht, Frau Bonhoff? Ich verstehe Sie nicht.“
Verwundert sah ihn die Frau an. „Na, erschossen hab ich ihn, Herr Wachtmeister. Ich hab die Luger von meinem Joschi aus der Wäscheschublade genommen. Ganz hinten, unter den alten Schlüpfern war sie. Dann bin ich runter in den Keller und hab den Dinges von hinten erschossen. Der hat sein letztes Stündlein gar nicht mitgekriegt.“

„Sie behaupten allen Ernstes, dass Sie den Hausmeister ermordet haben, Frau Bonhoff? Wissen Sie überhaupt, was Sie mir da erzählen?“
Król war aufgesprungen, doch die alte Dame ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Glauben Sie mir das nicht, Herr Wachtmeister? Sie glauben einer alten Frau wohl nicht, dass Sie dazu fähig ist, jemanden zu erschießen? Aber schießen hab ich immer schon können. Der Joschi hat mir doch gezeigt, wie man mit der Luger umgeht. Wie man den Schalldämpfer draufschraubt, wie man schießt und wie man trifft.“

„Und was haben Sie danach mit der Waffe gemacht, Frau Bonhoff?“ Jetzt würde er die Alte gleich bei ihrer Lüge erwischt haben.
„Die Luger? Die hab ich hinter dem Haus in den Urselbach geworfen. Aber der hat jetzt fast kein Wasser, die finden Sie dort bestimmt noch.“

Als Frank Król die Zimmertüre aufstieß, um nach der Pistole zu suchen, prallte er mit seiner Kollegin Kunzendorf zusammen, die im gleichen Moment von außen an die Tür klopfen wollte.
„Aua, pass doch auf, Frank. Wo willst Du hin, bleib hier. Ich hab ihn!“
Der Kommissar erstarrte mitten in der Bewegung. „Du hast ihn, Conny? Du meinst, Du hast den Mörder?“
„Ja, Frank“, die Kollegin packte ihn an den Schultern. „Da drin sitzt Walter Kappus, ein 85-jähriges Männlein, der Krebs hat und in ein paar Monaten selbst sterben wird. Den hat der Dinges mit seinem andauernden Laubgebläse derartig aufgeregt, dass er ihn erschossen hat. Mit einer Pistole, die er vor sechzig Jahren aus dem Krieg mitgebracht hat.“

„Lass mich raten.“ Król sah die Kollegin nachdenklich an. „Danach hat der Kappus die Knarre in den Bach hinterm Haus geworfen. Stimmt’s?“
„Woher weißt Du das?“ Die Kunzendorf blickte Król verwirrt an.
„Woher ich das weiß? Ganz einfach. Weil bei mir im Zimmer eine Frau Bonhoff sitzt, die den Dinges ebenfalls erschossen und die Pistole in den Bach geworfen haben will.“

~

Sie fanden tatsächlich eine alte Luger mit aufgeschraubtem Schalldämpfer im seichten Wasser des Urselbaches, allerdings weder Fingerabdrücke noch DNA auf der Waffe. Und zu allem Überfluss fand sich noch ein dritter, ein paar Jahre jüngerer Heimbewohner, der annähernd die gleiche Geschichte erzählte, die Waffe allerdings von seinem Vater geerbt haben wollte.
Es halfen keine Verhörkunst, keine Drohungen und keine Schmeicheleien. Alle drei Geständigen beharrten stur auf ihrer jeweiligen Geschichte, behaupteten felsenfest, die beiden anderen seien Lügner und hätten mit der Tat nicht das Geringste zu tun. Keiner der drei verhakte sich in Details, die ihn der Falschaussage überführt hätte, und alle drei konnten auch mit der Schusswaffe umgehen, was jeder von ihnen in einer nachgestellten Rekonstruktion der Mordtat bewies.

So kam es, dass letztlich keiner der drei Mordgeständigen seinen Platz im Altenwohnheim gegen eine Gefängniszelle tauschen musste, jedoch ein Laubbläser bei Ebay versteigert wurde und fortan ein anderer Hausmeister das Gelände mit Rechen und Besen laubfrei hielt.

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2 Kommentare

    1. Ist – glaube ich – auch fast so schlimm wie Herbergsvater im Schullandheim. (Mal abgesehen von der Sterblichkeitsrate.)

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