Im Valley habe ich Poker gelernt. – Besonders im Winter, wenn es draußen zu kalt für Runden auf den Bikes war, spielten die Kerle ganz gern Karten. Damals ging es noch nicht um die Variante, die heute in allen Internet-Zockerbuden gespielt wird – dieses Texas Hold’em – sondern um das klassische Poker, das Five Card Draw, das der passionierte Kinogänger noch von John Wayne und Konsorten kennt. Anfangs wollten mich Händi und seine Rita aus den Pokerrunden raushalten; weil es oft um recht hohe Geldbeträge ging und weil sie den kleinen, unschuldigen „Brösel“, wie sie mich alle nannten, aus Streitereien raushalten wollten. Aber die beiden hatten schnell kapiert, dass ich mit den anderen locker mithalten konnte. Die soffen nämlich einfach zu viel, und nach spätestens fünf oder sechs Runden holte ich mir immer zurück, was auch immer ich anfangs verloren haben mochte.
Ganz blöd war ich natürlich auch nicht. Ich wusste, dass ich am Tisch Verbündete brauchte, um Handgreiflichkeiten aus dem Weg zu gehen, bei denen ich garantiert verloren hätte. Also hielt ich mich bei den beiden Wortführern der Pokerrunden vornehm zurück: Händi, meinen Mentor (wenn man so wollte und wenn man diesen Begriff in einer Biker-Spelunke überhaupt verwenden darf), und Beats, den härtesten Schläger der Truppe, ließ ich immer aus. Entweder machte ich ihnen im Sichtkontakt klar, dass mein Blatt definitiv besser war als das ihre, oder ich ließ die beiden eben machen. Beats und Händi schluckten diese stillschweigende Vereinbarung, aber Mikey, Rollo und ein paar andere verloren immer wieder sattes Geld an mich, ohne zu kapieren, wie ich das anstellte.
Und wenn es dann wieder einmal soweit war, dass der Brösel das Geld von drei oder vier der Biker eingesackt hatte, Händi und Beats daneben breit grinsend am Tisch saßen und an ihren Zahnstochern kauten, zuckte sogar Mikey irgendwann die Schultern, und es dauerte keine fünf Minuten, bis alle am Tisch einen Schnaps auf meine Kosten kippten und die Rede auf den Hangman in der Ecke neben der Klotüre kam.
Dort hing nämlich seit Jahr und Tag eine Schaufensterpuppe in voller Montur von der Decke, in Hemd, Jeans, Lederstiefeln und Lederjacke – aufgehängt am Hals an einer Schlinge, die gut und gern aus einem Lynchwestern der Sechziger hätte stammen können.
„He! Erinnert Ihr Euch noch an diesen Felix?“, röhrte Mikey aus voller Brust und rammte Rollo seinen Ellenbogen in die Seite. „Diesen Vollidioten, den wir damals ausgenommen haben?“
Natürlich erinnerten sich alle an den Vollidioten Felix. Selbst ich, der als einziger nicht dabei gewesen war, kannte die Geschichte irgendwann in- und auswendig.
~
Irgendwann im Januar oder Februar vor zwei oder drei Jahren war dieser Kerl ins Valley spaziert. War draußen von seiner chromblitzenden Harley gestiegen, einfach hereinspaziert und hatte ungeniert Rita hinter dem Tresen angegraben. Händi war schon ziemlich vergrätzt, und eine saftige Abreibung lag in der Luft, als der Typ zu den Bikern an den Pokertisch trat und fragte, ob er nicht mitmachen durfte.
„Das war doch ein Bulle, oder?“, triumphiert Mikey. – „Oder ein Arschloch“, konterte Rollo. – „Oder beides“, grunzte Beats.
Wie auch immer. Sie ließen ihn mitspielen. Und erst mal gewinnen. Aber irgendwann im Laufe der Nacht wendete sich das Blatt, und dieser Felix begann zu verlieren. Heftigst zu verlieren. Erst war sein Geld weg, dann hatte er einen Schuldschein auf seine Harley ausgestellt und zuletzt kauften ihm die Valley Riders seine Klamotten ab. Solange bis er in Unterhosen am Pokertisch saß.
Rollo wollte ihm sogar noch die Schießerbüx gegen einen Fuffi eintauschen, aber Rita behielt die Nerven und warf Felix schließlich aus der Kneipe. In Unterhosen. Im Winter, in den frühen Morgenstunden.
Was aus dem Vollidioten Felix geworden war, daran konnte sich keiner erinnern. Er war nackt, nur in Unterhosen, raus auf die Straße und von da an niemals wiedergesehen. Seine geschniegelte Harley wollte keiner der Biker übernehmen, also verkauften sie das Gerät und teilten den Gewinn. Felix‘ Klamotten zogen die Valley Riders der Schaufensterpuppe an und hängten sie neben dem Klo an die Decke.
~
„So ein Riesenarschloch!“, brüllte Mikey, bevor er aus lauter Begeisterung mit dem Stuhl nach hinten auf den Fußboden kippte.
„Jedenfalls kam nix von ihm in der Zeitung“, ergänzte Rita lakonisch, während sie uns allen eine zweite Runde Bier mit Obstler auf meine Bestellung hinstellte.
Ich konnte mir das an diesem Abend leisten. Im Gegensatz zum unglücklichen Felix. Aber vielleicht weiß ja irgendjemand, was aus ihm geworden ist?
[lightgrey_box]Das ist mein Beitrag zum neunten Stichwort im Schreibprojekt *.txt. Die Textbeiträge zu allen anderen Stichworten, sowie Links zu den Projektseiten findet man nach einem Klick auf „Mein *.txt“.[/lightgrey_box]
[lightgrey_box]Für alle, die neugierig auf die Gestalten aus den Laimer Bröseln sind, gibt es eine kleine Galerie mit Portraitzeichnungen von Rita und den Jungs aus dem Valley.[/lightgrey_box]
Lieber Wortmischer, das ist ein großartiges Prequel zu meinem Eintrag – danke fürs Teilen!
Prima! Freut mich, dass Dir die Geschichte gefällt.