Im Jahr 1981 startete die NASA das Space-Shuttle-Programm. Dreißig Jahre lang Taxiservice ins All. Columbia, Challenger, Discovery – Magische Namen für Transportraketen, die den Ausschlag gaben für meinen beruflichen Werdegang. Die Universitäten rührten damals mit Riesentamtam die Werbetrommeln für das Fach Informatik. Programmierer, Software-Designer, Künstliche-Intelligenz-Entwickler waren Berufe, auf deren Prestige wir mit Ehrfurcht schielten, so wie man ein halbes Jahrhundert zuvor vielleicht den Arzt- oder Architektenberuf geschätzt hatte. Ich träumte davon, Marsraketen zu programmieren, und schrieb mich an der Fakultät für Informatik der Technischen Uni, in direkter Nachbarschaft der Münchener Pinakotheken ein.
Klassische Kunst neben ultramoderner Informationstechnologie. Genau so sah es damals nicht nur im Herzen der bayerischen Hauptstadt sondern auch in meinem eigenen Inneren aus. Ich hatte mich lange nicht entscheiden können zwischen Kunst und Mathematik, die Space-Shuttles gaben schließlich den Ausschlag für die Informatik. Sonst wäre aus mir gar noch ein äußerst mittelmäßiger Kunstmaler geworden. Und welches Schicksal denen droht, das wissen wir seit 1945 alle.
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Ein Studentenleben will natürlich finanziert sein. Und weil ich nicht bei meinen Eltern betteln gehen wollte, nahm ich ein paar Jobs an, mit denen ich ganz gut über die Runden kam. Wann immer es sich ergab, arbeitete ich bei Rita im Valley mit; an Wochenenden saß ich oft hinter der Kasse an einer Tanke an der Fürstenrieder Straße, nicht weit von Händis Schrottplatz und dem Straßenstrich entfernt, auf dem die Mädels der Valley-Riders liefen; und immer wieder dienstags fuhr ich Kleintransporte für ein Familienunternehmen mit dem Namen Heimausstattung Schmidt.
Die Schmidts stammten aus der Schweiz und verkauften Inneneinrichtung der praktischen Art an geldige Kunden mit konservativ beigem Geschmack: Vorhänge samt Aufhängung, Teppichböden inklusive Verlegung, Matratzen einschließlich Abtransport und Entsorgung der durchgelegenen Altpolster. Allein schon die Firmenbezeichnung „Heimausstattung“ ließ mich gruseln. Dieser Begriff hatte so überhaupt nichts mit ansprechender Gestaltung oder gar Design zu tun.
Aber immerhin, die Schmidts zahlten gut und waren stets auf der Suche nach kräftigen Jungs, die auch mal einen Lattenrost mit schwerem Elektromotor durchs Treppenhaus in den achten Stock schleppen konnten. Das war meine Spezialität, fanden zumindest Frau Schmidt und ihre Schwester. Ich hätte schon auch gern mal schwerelose Polyestervorhänge und Plastikgleitschienen ausgeliefert, aber mich trafen jede Woche Lattenroste und Matratzen.
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An einem dieser Dienstagnachmittage fuhr ich mit dem Lieferwagen der Heimausstattung am Valley vor. Mit den Matratzen war ich viel schneller als geplant durchgekommen und mir blieb vor der letzten Terminauslieferung des Tages noch locker eine Stunde für Pause mit einer Halben Bier am Tresen bei Rita. Als ich aus der Fahrerkabine stieg, trat Rollo auf mich zu, der eben von seiner Harley gestiegen war.
„Heim-aus-stattung?“, las er die Aufschrift von der Wagenflanke ab. „Was soll das denn werden, Brösel? Haste ‘ne Firma gegründet? Oder die Kiste geklaut? Willste das Ding über Händis Altautohandel verkloppen?“
Am Tresen erklärte ich Rollo, dass er mit seinen Vermutungen daneben lag und womit ich nebenbei ein wenig Geld reinbekam.
„Acht Matratzen und fünf Lattenroste allein heute“, führte ich schließlich meine Erklärung zu Ende. „Das ist echt harte Arbeit, kannste mir glauben.“
Mit der Fingerkuppe malte ich in den Kondenswassertropfen an der Außenwand meines Bierglases.
„Das heißt, Du hast da draußen jetzt acht abgewichste Matratzen auf der Ladefläche?“ Rollo sah mich erwartungsvoll an, bevor er die nächste Frage stellte. „Und was machst Du mit den Dingern?“
Die würde ich natürlich gleich auf die Sperrmüllsammelstelle fahren. Fünf Mark Sichtschutzgebühr für den Aufpasserpolen, dann war ich die ollen Latexteile los.
„Bist Du irre, Brösel? Was meinst Du was die Polacken mit den Dingern machen? Erst kassieren sie Deinen Heiermann und dann schlitzen sie die Matratzen auf.“ Rollo war ganz aufgeregt, ich wusste gar nicht worauf er aus war.
„Pass auf, Brösel. Du steckst ab sofort den Fünfer selbst ein und hilfst mir dabei, die Matratzen abzuladen und hinterm Valley auf den Hof zu stellen. Die Dinger mach ich auf und kein anderer. Da ist doch garantiert ab und zu Kohle drin. Die alten Leute bunkern alle ihr Erspartes im Matratzenfutter, Brösel!“
Ich zuckte die Schultern, doch in diesem Moment mischte sich Rita ein. „Klar, Rollo. Sonnenklar. Eine Superidee. Du sackst die Matratzen ein, findest nichts, verlierst die Lust und ich bleib auf den Scheißdingern sitzen, weil Du sie bestimmt nicht auf den Müll fahren wirst. Kommt überhaupt nicht in die Tüte!“
Nach einigem Hin und Her fuhr ich mit Rollo hinüber zu Händis Schrottplatz, und wir luden die Matratzen dort ab. Mir war es egal, ob Rollo Stress mit dem Chef bekommen würde. Ich war die Matratzen jedenfalls ohne Umweg über den Sperrmüll los, hatte ab sofort jeden Dienstag einen fluffigen Fünfer zusätzliches Trinkgeld in der Tasche; für mich war die Sache erledigt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Rollo irgendwas in den Matratzen finden würde.
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Aber so war Rollo gestrickt: Tagelang, wochenlang der Sonnyboy, dem nichts, aber auch gar nichts ans Gemüt konnte. Und dann, mit einem Schlag, kam so eine fixe Idee daher wie ein Schmetterling, der sich auf seinen Synapsen niederließ und dem er unbedingt nachflattern musste; komme, was da wolle.
Mit der Akribie eines Paranoikers widmete er sich seinem Ziel, bis er entweder fündig wurde – oder die Flamme der Begeisterung genau so plötzlich erlosch, wie sie sich entzündet hatte.
Rita schätzte das schon richtig ein: Wenn Rollo lange genug nichts in den Matratzen finden würde, wäre die Begeisterung für seine Idee irgendwann schlagartig passé, vorbei, aus, Amen …
Rollo war ein Glücksritter, ein Schürfer im Rausch, der aber von heute auf morgen gerne mal von hundertzehn auf null zurückschalten konnte.
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Ich hätte tatsächlich nicht gedacht, dass ich jemals wieder nur das Geringste von diesem Matratzendeal zwische Rollo und mir hören würde. Doch eines Tages tauchte so ein Kerlchen bei Schmidts in der Heimausstattung auf und jammerte herum, dass er seine alte Matratze noch brauchen würde, die hätten wir die Woche zuvor mitgenommen, und wo die jetzt sei.
Die Schmidts schickten ihn zu mir. Der Junge ging noch zur Schule und war genau so ein Hemd wie ich selbst ein paar Jahre zuvor. Als ich ihm sagte, die Matratzen seien definitiv auf dem Müll gelandet, fing er fast an zu heulen. Ob man denn da gar nichts machen könne, weil seine Eltern hätten einfach ohne ihm Bescheid zu geben seine Matratze ausgetauscht. Dabei sei aber noch ‘was Wichtiges im Polster drin gewesen.
Ich konnte es kaum glauben, dass jemand tatsächlich so blöd war, sein Geld in die Matratze zu stopfen. Doch dann sah ich mir das Kerlchen genauer an: diese Augen, das Rot im Weiß, der unstete Blick und die Pupillen – der Typ war doch auf ‘nem Trip!
„Was hattest Du da drin gebunkert? Gras? Luzie? – War es viel? Den Stoff siehst Du nie wieder, Mann.“
Das wird die gewogene Leserschaft wahrscheinlich nur mit Mühe nachvollziehen können: Aber ich konnte ja schlecht mit dem Jüngelchen zu Händis Schrottplatz fahren und womöglich ein Nachspiel riskieren, falls der durchdrehte und uns die Bullen auf den Hals hetzte. Also schickte ich das Häufchen Elend wieder nach Hause, alles andere war mir zu heiß, auch wenn er mir leid tat.
Allerdings wäre es ohnehin zu spät gewesen. Als ich an diesem Abend im Valley aufkreuzte, lief bereits Party. Und zwar nicht zu knapp: Schon durch die Eingangstür schlugen mir Led Zeppelin aus der Jukebox, Gelächter und der süße Kräuterdampf der Grastorpedos entgegen, die im Gastraum eines nach dem anderen abgefackelt wurden.
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