Der Anzinger brauchte Geld. Dringend. Er war abgebrannt und auf jede müde Mark angewiesen. Wahrscheinlich hatte er Wettschulden, jedenfalls gab es Ärger mit zwei üblen Yugos mit pockennarbigen Gesichtern, die draußen auf der Straße in einer verbeulten BMW-Limousine auf ihn warteten.
Seinen runtergefeudelten Ford Capri hatte der Anzinger vorhin für fünf Hunderter an den Leutnant aus Plön verscherbelt, und unser Koch hatte ihm eine vollständige Playboy-Sammlung aus drei Jahrgängen für zweihundert Mäuse abgekauft. Jetzt war ich dran. „Für Dich hab ich noch was ganz Feines, Brösel.“ Der Anzinger grinste.
Wir saßen im sonst menschenleeren Gastraum des Offizierskasinos in der Kaserne an der Schweren-Reiter-Straße, in der in den Achtzigerjahren bereits viele der alten Langbauten leer standen. Ein seltsames Paar mussten wir abgegeben haben: Der Anzinger im Grünzeug und in Springerstiefeln, ich daneben im hellblauen Kurzarmhemd und der dunklen Stoffhose der Luftwaffe. Er eins fünfundneunzig, ich eins siebenundachtzig. Der Anzinger mit dem Erscheinungsbild des kleinen Bruders von Richard Kiel, den Ihr vielleicht als den „Beißer“ aus den James-Bond-Filmen kennt, mit der Schulterbreite eines ausgewachsenen Bisonbüffels und 120 Kilo Muskeln auf den Rippen. Daneben ich, der Gymnasiastenschlaks mit schlappen 80 Kilogrämmchen einschließlich Gräten.
Wie der Anzinger mit wirklichem Namen hieß, weiß ich nicht mehr. Er kam jedenfalls aus dem Ort Anzing, aus dem breiten Speckgürtel um München, und so wurde er von allen genannt. Im Offizierskasino war er als Tellerspüler eingesetzt, während ich die Schichten für zwei Köche und vier Ordonnanzen einteilte und für die Restaurantabrechnung des Kasinos zuständig war. Der Anzinger konnte mich gut leiden, weil ich der erste war, der sogar den Tellerwäscher an den Trinkgeldeinnahmen beteiligte.
„Du stehst doch auf Mopeds, oder?“ Der Kerl zog mich auf die Beine und lotste mich über die aufgeplatzten Asphaltwege des Kasernengeländes in den hinteren Bereich, wo sich längst niemand mehr die Mühe machte, das sich sammelnde Gerümpel wegzuräumen, und wo einige seit Jahrzehnten nicht mehr genutzte Garagen mit rostigen Blechtoren standen.
„Ein ganz schnuckeliges Maschinchen hätte ich da für Dich im Angebot!“ Er klappte das Flügeltor einer der Garagen auf und knipste eine nackte Glübirne an, die Licht ins Dunkel des Raumes bringen sollte. Entgeistert starrte ich auf den schimmernden, frisch lackierten Rahmen eines Motorrades, der in der Mitte des Raumes auf Holzbohlen aufgebockt stand. Kein Motor, keine Reifen, nichts außer dem Rahmen.
„Schnuckeliges Maschinchen, sagst Du?“, murmelte ich.
„Na ja, die muss nur noch wieder zusammengebaut werden, Brösel. Ein Kinderspiel. Ist alles da, fehlt kein einziges Schräubchen.“ Der Anzinger deutete auf Holzregale, die an allen drei Wände der Garage standen und in denen unzählige beschriftete Pappschachteln standen.
„Und was wird das, wenn ’s mal fertig ist?“, wollte ich wissen.
„’ne Yamaha. XS650 Spezial. Ein geiler Chopper ist das, Brösel!“
„Geiler Chopper? Es gibt keine geilen Chopper außer Harleys“, schnaufte ich. Diese Weisheit hatte ich natürlich von meinen Freunden im Valley übernommen. „Was soll er denn kosten, Dein Chopper?“
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Zehn Minuten später eierte der Anzinger mit den Gesamteinnahmen aus seinem Totalausverkauf in Höhe von 750 Mark davon, um sich bei den Yugos freizukaufen. Ich blieb in der Garage zurück – neben dem schwarz glänzenden Rahmen einer Yamaha und einem Haufen Schrauben und Einzelteilen.
Ich besorgte mir ein Werkstatthandbuch für die XS650, in dem das ganze Ding schräubchenweise in detaillierten Explosionszeichnungen dargestellt war. Ich brauchte fast drei Monate für die Montage, obwohl der Anzinger nicht gelogen hatte. Die Einzelteile waren tatsächlich vollständig. Als ich die Maschine zusammengesetzt hatte, blieb sogar eine ganze Menge Schrauben und Beilegscheiben mysteriösen Ursprungs übrig.
Der Tag der Jungfernfahrt fiel auf einen Samstag. Ich befüllte den Tank aus einem Benzinkanister, goss diverse Schmiermittel und Bremsflüssigkeit in die Vorratsbehälter und pinselte zuletzt mit großer Hingabe und blauer Acrylfarbe ein selbstgemachtes TÜV-Siegel auf das alte Nummernschild. Dann stülpte ich mir einen zerkratzten Jethelm über den Kopf und ließ mein Schnuckelchen durch die Kaserne knattern, passierte den Schlagbaum am Tor und kurvte schließlich mit polterndem Zwillingszylinder und stolz wie Oskar die Leopoldstraße hinunter zur Feldherrnhalle am Odeonsplatz.
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Ein paar Stunden später stellte ich die Yamaha auf dem Bürgersteig vor dem Valley ab, wo sonst Händi und die Jungs ihre Harleys parkten. Ich legte den Helm auf die Sitzbank und betrat die Kneipe. Am frühen Samstagnachmittag war Rita noch allein hinterm Tresen. Ich setzte mich auf einen der Barhocker, ließ mir erst mal ein Bier zapfen und unterhielt mich mit Rita über ihre Schwierigkeiten, mit dem Betrieb des Valley Geld zu verdienen.
Kurz darauf rumpelte Mikey Zappa herein. Ganz aufgeregt war er, seine öligen Korkenzieherlöckchen tanzten auf dem Kopf, die Augen blitzten.
„Hey, habt Ihr den Reiskocher draußen gesehen? Welcher Irre stellt eine Japanmühle vor unserem Schuppen ab? Ist der Typ noch ganz dicht?“
Mikey glotzte Rita an. Rita glotzte mich an. Ich starrte auf mein Bierglas, grinste stumm und bildete mir ein, das langsame Ticken von Zahnrädchen hinter Mikeys Stirn hören zu können, bis er schließlich in ein hysterisches Gackern ausbrach.
„Ich glaub ’s nicht. Der Brösel. Fährt uns mit ’ner japanischen Nähmaschine auf den Hof. Is‘ nicht wahr, oder?“
Das gleiche Spiel wiederholte sich noch dreimal mit nur minimal abgewandelten Texten, als nacheinander Händi, Rollo und zuletzt Beats eintrudelten. Sie alle lachten sich schlapp und trommelten mit ihren Patschhänden wie zum Trost wegen des mickrigen Maschinchens auf meinen Schultern herum.
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Ich weiß nicht, was die Valley-Riders damals in mir sahen. Ich passte so überhaupt nicht zu der Truppe, war Jahre jünger als sie und im Vergleich zu ihren Gestalten ein schmales Handtuch. Nur weil ich Händi, dem Boss, einmal einen Gefallen getan hatte, war ich als Gast aufgenommen worden. Wahrscheinlich war ich eine Art Maskottchen für sie, vielleicht sowas wie ein kleiner Bruder für den einen oder anderen, oder gar ein Sohnersatz für Händi?
Jedenfalls hielten sie mich aus ihren meist nicht koscheren Angelegenheiten heraus, wofür nicht zuletzt Rita verantwortlich war. Die machte Händi unmissverständlich klar, dass sie es nicht erleben wollte, mich mit blauem Auge oder blutigem Kopf aus irgendeiner Auseinandersetzung der Valley-Riders zurückkommen zu sehen. Sonst würde er, Händi, etwas erleben!
Andererseits verschaffte mir die Harley-Truppe im Glasscherbenviertel des Münchner Westends durchaus eine brauchbare Reputation. Nachdem ich zwei- oder dreimal im Pulk von fünf schweren Motorrädern durch Laim gepoltert war, traute sich keiner im Viertel mehr, mir auf der Straße auch nur einen scheelen Blick zuzuwerfen.
Doch dummer Weise übertrug sich diese Zurückhaltung auch auf die Mädchen, die mir gefielen. Wann immer ich eine ansprach, schlug sie die Augen nieder und sah zu, dass sie fortkam. Ihren Müttern, Vätern und Brüdern wäre ich als Freund ganz bestimmt nicht vermittelbar gewesen.
Mein Image wandelte sich in weniger als einem Jahren vom Milchbubi zum einsamen Wolf, was mir nicht sonderlich schmeckte und mich noch enger an die Jungs aus dem Valley band.
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Immerhin kümmerten sich damals alle Biker rührend um mich, auch jetzt mit meinem minderwertigen „Reiskocher“. Eine Woche später hatte ich nicht nur eine echte TÜV-Plakette auf dem Nummernschild und offizielle Papiere für die Yamaha in der Tasche. Auf dem Schrottplatz, den Händi unter der Bezeichnung „Gebrauchtwagenhandel“ direkt am Straßenstrich an der Friedenheimer Straße betrieb, schraubte Mikey einen selbstgeschweißten Hochlenker an das Maschinchen und klebte einen Totenkopfsticker auf den Tank. „Wegen der Autizität“, merkte er wichtig an.
Dass ich damals noch nicht mal den Führerschein für meine Mühle hatte, wagte ich gar nicht zu gestehen, und holte die Prüfung in aller Stille heimlich nach.
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Die einzige aber, die mich damals wirklich ernst nahm, war Rita. Nachdem ich ihr einmal beim Aufräumen der Kneipe geholfen hatte, adoptierte sie mich als Gehilfen im Valley. Ich räumte das Lager auf, brachte die Kühlkammer auf Hochglanz und setzte mich zuletzt an Ritas Buchführung. Ich sortierte Warenrechnungen und Kassenbelege, rechnete Glasbruch und sonstigen Schwund ab, hübschte die Gewinn- und Verlustrechnung auf, so dass der Laden nach dem Nullsummenspiel der letzten Jahre endlich in eine beruhigende Einnahmesituation geriet. Wie man das anstellte, hatte ich schließlich im Offizierskasino der Kaserne gelernt.
Dafür bekam ich freie Kost und Getränke, und mindestens einmal die Woche steckte mir Rita ein großzügiges Trinkgeld zu.
Seine Glanzzeit erreichte das Valley etwa ’83, als zum ersten Mal überhaupt in der Kneipengeschichte eine Speisekarte auf dem Tresen lag, nach der es an Freitagabenden Leberkäs mit Spiegelei und Bratkartoffeln und samstags American Beefburger mit Pommes zu bestellen gab.
Rollo verstieg sich damals in eine Grundsatzaussage geradezu politischer Dimension, als er den Burgern ein Loblied sang und darauf hinwies, welchen zivilisatorischen Vorsprung die U.S.A. vor Deutschland hatten: Harleys, Burger und Ronald Reagan!
„Seht Euch doch um, Leute. Die Amis wählen sich einen Schauspieler zum Präsidenten, und wen kriegen wir hier ab? Birne Kohl. Ich meine, das sagt doch schon alles, oder?“
Nur Händi warf seiner Rita und mir ab und zu nachdenkliche Blicke zu, wenn wir Seite an Seite die Burgerteller aus der Küche an die Tische schafften oder nachts zur Sperrstunde noch klar Schiff machten. Wahrscheinlich ahnte er, dass sich Rita bei mir dann und wann noch ein wenig mehr holte als bloße Unterstützung in der Küche. Vermutlich hatte er noch nicht mal etwas dagegen. Ich erinnere mich an einen schweren alkoholischen Absturz im Valley, bei dem mir Händi mit flatternder kubanischer Rumfahne ins Ohr nuschelte, dass er sich längst die Libido weggesoffen hätte und gar nicht mehr wisse, wie das überhaupt funktionierte mit der Vögelei.
Es waren ein paar wilde Jahre, Anfang der Achtziger, an die ich manchmal mit Schaudern, aber im Großen und Ganzen mit viel Liebe zurückdenke.
Es ist noch nicht lange her, dass ich Rita zu ihrem siebzigsten Geburtstag besucht habe. Das Valley hat sie längst aufgegeben, genauso wie das Saufen. Aber was mit Händi und den Jungs passiert ist, das ist eine traurige Geschichte. Ob ich die erzählen mag, weiß ich noch nicht.
[lightgrey_box]Für alle, die neugierig auf die Gestalten aus den Laimer Bröseln sind, gibt es eine kleine Galerie mit Portraitzeichnungen von Rita und den Jungs aus dem Valley.[/lightgrey_box]
Gerne gelesen! Ich kann mir das Lokalkolorit sehr gut vorstellen, obwohl ich erst Anfang der 1990er Jahre nach München gezogen bin und sich mein Leben in der Großstadt vorerst zwischen Nordendstraße, Stachus und Stiglmaierplatz abspielte.
Später war es dann das Westend und noch später Sendling. Ich war sogar einige Male im Südbad. Am meisten vermisse ich aber den Westpark *seufz*
Sieh an, der Westpark! Der wurde ja zur Bundesgartenschau in München angelegt, die just damals, zu Zeiten meiner Geschichte, stattfand.
Den Park haben wir in jenen Jahren aber eher nicht frequentiert ;-)
„Laimer Brösel“ gefällt mir. Diese tolle autobiographischen Erzählung zeigt auch Münchener Lokalcolorit und Lebensgefühl der 1980er Jahre. Damals war ich schon ein braver Familienvater und kannte München nur aus den Medien. Bin gespannt, wie es weitergeht.
Freut mich, wenn Du dranbleiben willst. Ich schreib halt immer wieder eine Episode, wenn mir wieder irgendwas aus dieser Vergangenheit einfällt. Mal sehen, wie weit die Erinnerung reichen wird.
Ich beglückwünsche dich zu diesen Zeilen.
Leider habe ich, als Münchner, Baujahr 1961, rechts der Isar, diese einschneidenden Erlebnisse nicht mitbekommen, obwohl ich mir mehr als einmal gewünscht hätte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Und so bleibt mir letztlich, als einer, der München nicht immer treu geblieben ist, nur die Erinnerung an Zeiten, als es noch keinen mittleren Ring gab, kein Olympia-Stadion und keine U-Bahn. Und auch die Erinnerung an den Starnberger See, als er noch „uns“ allen gehörte.
Die „gute alte Zeit“ eben.
Danke für Deine Glückwünsche. Auch wenn ich selbst bestimmt nicht so oft zur rechten Zeit am richtigen Ort war. Ich schreib trotzdem: auch über falsche Zeiten an falschen Orten ;-)
Eine Einladung
https://wasfreudemacht.wordpress.com/2016/03/13/eine-nominierung/
Danke sehr. Hab Deine elf Stichworte gesehen, und die Maschine da oben unter meiner Schädeldecke hat sich auch schon in Bewegung gesetzt. Angesichts meiner Terminlage in den kommenden zehn, zwölf Tagen, die mir schon heute einen flauen Magen bereitet, weiß ich aber noch nicht, wann Sinnfälliges aus dem Gedankenwolf herauspurzeln wird. (Ich melde mich dann in den Kommentaren der Nominierung.)
Ihretwegen, lieber Wortmischer, bin ich in die Garage geschlichen und habe das Geheimnis zu lüften gesucht, welche Art die beiden heißen Öfen sind, die sich in unserer Garage aufhalten. Sind das womöglich auch Japanische Reiskocher?
Na, ich nenne jetzt keine Marke. *g*
Laimer Brösel – herrlich erzählt. So schön bildhaft, ich kann mir richtig das Kino im Kopf anschauen beim Lesen. Ich gestehe, ich bewundere ihre saftige Erzählform, da kocht so richtig Leben in den Texten und zwischen den Zeilen. Wer weiß wieviele Roman sie schon veröffentlicht (und hier verschwiegen) haben. Womöglich gehören die Laimer Brösel schon zu den Erfolgreichsten im Börsel :-)
Na, es gibt (noch) keine veröffentlichten Romane. Und freuen Sie sich mal nicht zu früh, denn die geplanten Fortsetzungen der Laimer Brösel werden es noch in sich haben. Vor denen muss ich ausdrücklich warnen!
Na, solange keine groben oder feinen Brösel in meinem Bett liegen …
…. kann kein Laimer Brösel auf mich bedrohlich wirken. Aber wer weiß schon, wie gewitzt und gepfeffert der Herr Wortmischer die Worte wieder zu mischen versteht in den nächsten Folgen. Gehts um Giftmord? Orgien in der Moschee? Messerstecherei? Schwangerschaften im Kloster? Sakra!
Hihi, „Sakra!“ – Warten Sie ’s ab, ich bastle noch am Laimer Bröseltext.
Lieber Wortmischer,
lassen Sie sich nur Zeit, gut Ding braucht Weile.
Ich genieße derweil noch den Nachklang vom letzten Tagebuch-Slam in der Landeshauptstadt, wo jemand (aus dem eigenen Tagebuch) vorgelesen hat, wie sie als Elfjährige verliebt war. In sechs Jungs zugleich. Jeder von ihnen nummeriert im Tagebuch. Und die Elfjährige wusste damals schon, eines Tages würde sie blond sein (und nimmer brünnett). Später haben die Eltern dieses Kind in eine katholische Klosterschule gesteckt. Das hat nicht einmal die Tochter selbst gewundert. – Was haben wir gelacht an diesem Abend!
Ach, das hört sich wirklich spaßig an. Haben Sie selbst auch gelesen? (Falls ja: Darf man nachlesen, was?)
Du kannst wirklich ganz wunderbar erzählen. Man fühlt sich als wäre man dabei und atmete die Luft dieser Zeit.
Toll!
Herzlichen Dank für Dein Lob, ich hör das gern.