Neujahrsnacht im Valley, irgendwann in den Achtzigern: Das wildeste Spektakel ever, an das ich mich erinnern kann! Die Bude war proppevoll, Bier und Schaps flossen in Strömen und aus der Jukebox dröhnten alte Rock’n’Roll-Hits vom King, Bill Haley, Jerry Lee Lewis – Great Balls of Fire!
Die Kerle des Bikerclubs waren komplett anwesend und ausnahmsweise auch mal alle Freundinnen, die an normalen Abenden so gut wie nie dabei waren. Unter der Woche gingen die Damen nämlich überlicherweise anschaffen, ein paar Kilometer weiter auf dem Autostrich in der Friedenheimer Straße. Das gehörte eben dazu in der Clique, das hatte ich erst ziemlich spät kapiert.
Zum Jahreswechsel aber wurde nicht gearbeitet, und ich staunte Blauklötze: Da waren einige unglaublich heiße Feger unter den Frauen! Ich war zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt und trotz meiner Freundschaft mit Händi und ein paar der anderen Biker noch immer ziemlich unbedarft. Ein paar der Bordsteinschwalben gingen dann auch ran wie Blücher und versuchten, mich aus der Reserve zu locken. Mal testen, was das Bübchen aushielt …
„Pass bloß auf, Brösel“, raunte mir Rita zu, die Freundin Händis, die hinter der Bar alle Hände voll zu tun hatte, Getränkebestellungen abzuarbeiten, als ich mir ein frisches Bier abholte. „Mach auf Distanz zu den Mädels. Sonst haste schneller, als Du ‚ficken‘ sagen kannst, ’ne Faust im Hals. Die Burschen sind in dieser Hinsicht alle ziemlich konservativ drauf.“
Rita war die absolute Ausnahme unter den Frauen der Truppe. Sie schmiss die Kneipe der Gang, das Valley, und war schon seit Jahren felsenfest mit Händi zusammen. Sie war wahrscheinlich die einzige, die ihren Kerl im Griff hatte, und nicht auf den Strich ging. Obwohl sie dort mit Sicherheit als ungekrönte Königin der Münchener Oberweiten rauschende Erfolge gefeiert hätte.
Bis dahin hatte mir Rita schon einige Male den Kopf gerettet, und ich hielt mich wohlweislich an ihren Rat. Ich konzentrierte mich aufs Bier, tanzte ab, was die Music-Box zu bieten hatte, und beließ es bei Blickkontakt und Augenzwinkern mit den Mädels. – Immer schön auf Distanz!
Mitternacht ging es pyrotechnisch schwer zur Sache. Die Biker waren zwar schon allesamt ziemlich knülle, ließen es sich aber nicht nehmen, fette Raketengeschwader in den Nachthimmel steigen zu lassen. Erst als sich Händi seinen langen Merlinbart zur Hälfte abgefackelt hatte und eine Polizeistreife auf der Straße auf und ab fuhr, zogen wir uns wieder in die Kneipe zurück.
Es war drei durch, und die alkoholbedingten Ausfallerscheinungen nahmen überhand. Zwei der Mädels gingen sich gegenseitig an die Gurgel, warum auch immer. Sie zerrten sich an den Haaren und schlugen wütend aufeinander ein. Aber Rita ging vehement dazwischen und sorgte für Ruhe.
Die Bikertruppe hockte mit glasigen Augen an den Tischen und füllten den letzten trockenen Zentimeter ihrer Leber mit Obstler auf, und um halb fünf war endlich Ruhe im Karton: Wer noch einigermaßen zu Fuß war, hatte das Valley bis dahin verlassen. Der Rest lag auf oder unter den Tischen. Zigarettenqualm, dichter als der Pekinger Smog, waberte durch das Lokal.
Auch Rita hatte schon ganz erheblich Schlagseite, machte sich aber dennoch daran, Gläser, Teller und Besteck auf dem Schlachtfeld einzusammeln. Ich war ebenfalls breit wie ein Rhinozerosarsch, brachte es aber trotzdem nicht übers Herz, mich aus dem Staub zu machen und Rita im Chaos des Valley alleine zu lassen.
Zwei Stunden lang arbeiteten wir uns zu zweit zwischen Tischen und Alkoholleichen hindurch, leerten Aschenbecher, spülten eine Maschine nach der anderen und räumten die sauberen Gedecke wieder in die Schränke.
Um kurz vor sieben hielten wir inne und sahen uns um.
„Puh!“, schnaufte Rita. Das Schnarchen der Schnapsleichen erfüllte die Kneipe. „Danke. Den Rest schaff ich morgen locker.“ Rita schloss mich in die Arme und wuschelte mir den Kopf. „Bist ein Schnucki, Brösel! Bisher hat mir noch keiner von denen geholfen wie Du“, grinste sie.
Wie oder warum? Wer weiß das schon. Ich jedenfalls nicht mehr, aber mit einem Mal lagen meine Hände auf ihrem Hintern. Rita zog mich an sich und sah mir mit unstetem Blick in die Augen. Dann küsste sie mich; nicht unbedingt auf eine Weise, wie eine Schwester ihren Bruder küssen würde.
~
Ich erwachte auf dem Sofa im Hinterzimmer des Valley. Ziemlich unbekleidet und ziemlich verkatert. Rita beugte sich über mich und drückte mir a) einen Kuss auf die Lippen und b) einen Becher mit dampfendem Kaffee in die Finger.
„Zieh Dich an, Brösel. Da vorne kommt langsam Leben in die Bude … Und bitte: Bleib auf Distanz!“
[lightgrey_box]Das ist mein Beitrag zum sechzehnten Stichwort im Schreibprojekt *.txt. Die Textbeiträge zu allen anderen Stichworten, sowie Links zu den Projektseiten findet man nach einem Klick auf „Mein *.txt“.[/lightgrey_box]
[lightgrey_box]Für alle, die neugierig auf die Gestalten aus den Laimer Bröseln sind, gibt es eine kleine Galerie mit Portraitzeichnungen von Rita und den Jungs aus dem Valley.[/lightgrey_box]
ich mag den text! und rita auch;-)
Danke. (Den Text hab ich einfach mal riskiert und Rita mag ich auch. Noch immer :-)
Überraschende Wendung. Und das ist niemals nicht raus gekommen? Rita war ja mutig, und Du anscheinend ganz schön willenlos ;)
Wart es ab ;-)