Über Kunst und den Preis der Kunst

Eines war klar: Clara* brauchte Geld. Zaster, Money, Pinkepinke, Kohle. Wenn sie nicht in den nächste Tagen mindestens einen Hunni in die WG-Kasse einzahlen konnte, würden sie ihre Mitbewohnerinnen an die Luft setzen. Die beiden waren gerade ziemlich krass sauer auf Clara.
Ihr Problem war, dass es im Moment keine Alternativen gab. Ihr fester Stecher hatte Clara den Laufpass gegeben, weil er sich irgend so ein dürres Hühnchen angelacht hatte. Und andere Unterkunftsmöglichkeiten taten sich auch nicht unbedingt auf. – Also, Clara: Penunse ranschaffen!
Sie stand vor dem schwarzen Brett des Supermarktes und studierte die handgeschriebenen Kleinanzeigen: Putzhilfe gesucht, Haushaltshilfe benötigt, Babysitterin für ein bis zwei Abende pro Woche …
Alles Mist. Clara hatte keinen Bock, sich die Hände wund zu scheuern oder ihre Abende mit schreienden Gören zu verbringen.

Aber hallo, halt, was war das denn! – Künstler sucht laufend Rubensfrauen als Aktmodelle, 50 € pro Stunde.
Rubens ging klar. Clara hatte ein paar Pfunde zu bieten. Da würde sie anrufen. Hingehen, ausziehen, rumsitzen und der Uhr beim Tickern zuhören. Abkassieren.

~

Clara stand vor einem abgefuckten Wohnblock im Westend der Stadt. Komische Adresse für das Atelier* eines Künstlers, fand sie. Aber ohne Zweifel, der Typ am Telefon hatte ihr genau diese Adresse genannt. Ein bisschen merkwürdig hatte er schon geklungen am Telefon. So ’ne fistelige Krächzestimme, dass sie anfangs gedacht hatte, sie würde mit einer Frau mit Bronchitis telefonieren. Aber egal. Nur Bares ist Wahres.

Der Kerl, der ihr die Tür öffnete, war dann wirklich schon ’ne Nummer: Ein paar Zentimeter kleiner als sie selbst und höchstens halb so schwer. Ein Spichtel mit langen grauen Haarsträhnen auf dem Kopf, in Batik-T-Shirt und Schlotterjeans, die mit Farbklecksen bedeckt waren. Späthippie oder sowas, dachte Clara.
Aber dann stand sie schon in einem weiten Raum, der wahrscheinlich durch Entfernen aller Innenwände der Wohnung entstanden war, und besah sich die großformatigen Bilder, die an den Wänden lehnten. Seltsames Zeug. Knallige Farben, flächige Malerei. War das Acryl oder Öl? Clara hatte keine Ahnung. Sie blieb vor einem grellen, klecksigen Bild in türkis, rot und grün stehen.

Frauenakt in Türkis

Dafür brauchte dieser Heini ein Modell? Und zahlte auch noch Stundenlohn? Na ja, ihr sollte es recht sein.

Wo sind die anderen?* Wo bleiben sie denn?“ Der Pinselstricher wirkte nervös.
„Welche anderen?“, wollte Clara wissen.
„Die anderen Frauen natürlich, mein liebes Kind! Ich habe für heute fünf Modelle einbestellt. Mir schwebt etwas Gewaltiges vor. Eine Orgie wallenden Fleisches. Ein wollüstiges Portrait unserer Gesellschaft! Ich hab doch gesagt, sie sollen alle unbedingt pünktlich sein. Ich hab keine Lust, Euch fürs Rumstehen zu bezahlen.“

Schließlich hieß der Spichtel Clara, sich schon mal auszuziehen und noch einen Moment zu warten. Falls ihn die anderen Frauen tatsächlich versetzten sollten, würde er eben mit ihr vorlieb nehmen. Immerhin habe sie ja eine vernünftige Figur, aus der sich etwas machen ließe.
Als er den Atelierraum verließ, schielte Clara zu dem türkisen Gekleckse hinüber und fragte sich, wie sie selbst wohl demnächst auf einem Gemälde aussehen würde. Das Geld hatte der Pinselstricher noch mit keinem Wort erwähnt. Trotzdem schlüpfte sie aus ihrer Kleidung. Im Atelier war es brütend warm.

Sie hatte gerade Hose, T-Shirt, Bluse und Wäsche in einer einigermaßen sauberen Ecke des Raumes aufeinander getürmt, als erneut die Türglocke schellte, gefolgt von einigen lautstarken Rufen, rumpelnden Geräuschen und dem empörten Fistelgekreische von Rembrandt.
Schon flog die Alteliertüre auf, und vier Uniformierte stürmten den Raum. Ein fünfter schob den kreischenden Künstler vor sich über die Schwelle, dann kehrte auf einen Schlag Ruhe ein, und alle Anwesenden starrten sich gegenseitig an.
„Wer sind Sie denn?“, wandte sich eine der Polizistinnen an Clara, die vergebens versuchte, mit beiden Händen ihre Blößen zu bedecken.
„Ich? Ich bin sein Modell.“ Sie nickte in Richtung des Pinselstrichers. Als die fünf Beamten grinsten und der Künstler den Kopf senkte, wurde sich Clara auf einmal  der Groteske ihrer Situation bewusst und errötete.

„Wir nehmen Sie fest wegen Vertragsbruch und fortgesetztem Betrug“, leierte einer der Polizisten herunter, legte dem Künstler einen Kabelbinder* um die Handgelenke und zog die Schlaufe zu.
„Was ist mit Ihnen, Fräulein …?“ Eine der uniformierten Frauen blickte Clara an. „Wollen Sie auch Anzeige erstatten, wie seine anderen Modelle?“
„Äh, wieso?“, wollte Clara wissen.
„Na ja, er hat keines seiner Modelle bezahlt. Hat er Sie bezahlt?“
„Das weiß ich noch gar nicht.“ Clara blickte den Maler an. „Bezahlen Sie mich? Ich bin seit zwei Stunden hier. Macht ’nen Hunderter, oder?“
Das war zwar gnadenlos übertrieben, aber Clara fand, das Geld hatte sie sich verdient.

~

Wenig später marschierte sie mit einem Grinsen auf dem Gesicht die Straße entlang. Sie pfiff* den Radetzky-Marsch. Denn Clara hatte eine Schwäche für Operette. Und das gerade eben war ja wohl mit Abstand das Operettenhaftigste, das ihr in ihrem jungen Leben passiert war.

In der Hintertasche ihrer Jeans steckten zwei Fuffziger, die sie ungemein fröhlich stimmten.

[lightgrey_box]*) Dies ist sozusagen eine Auftragsarbeit, ausgelöst durch Jutta Reichelts Geschichtengenerator, den ich in der Mutterkiste bei Dora gefunden habe. Mit dem Zufallsgenerator habe ich gewürfelt und eine Figur, einen Ort, einen Satz und einen Joker gezogen: Clara (kann sehr laut pfeifen), Atelier, Wo sind die anderen?, Kabelbinder. – Heiliges Kanonenrohr, dachte ich. Was machste jetzt daraus?[/lightgrey_box]

Die Leich‘

„Du wirst Dich noch einmal wundern, wie wenig sich das Begehren im Alter von dem in der Jugend unterscheidet“, stellte sie fest.

Wie bitte? Er schüttelte den Kopf, um den Effekt dieses völlig unerwarteten Satzes abzuschütteln. Im Augenblick wunderte er sich eher über die Trinkfestigkeit seiner Mutter. Seit die Kellnerin ein paar Stunden zuvor begonnen hatte, die Bestellungen der Trauergemeinde aufzunehmen, hatte sie gewiss drei oder vier Halbe Bier und gerade eben mindestens den dritten Obstler gekippt. Deshalb beachtet er die letzte Anmerkung seiner Mutter nicht, sondern sorgte sich mehr um ihr Verhalten. Tat sich da etwa ein familiäres Problem auf, das er noch nicht kannte? War die Mutter womöglich eine bisher heimliche Säuferin?

„Trink nicht so viel, Mama“, mahnte er.

„Ach, komm!“, konterte sie, „Was glaubst Du denn, was mir jetzt noch bleibt, wo Dein Vater unter der Erde ist? Du weißt, dass wir beide nie viel getrunken haben. Was mir jetzt am meisten fehlen wird, sind seine Zärtlichkeiten. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber Dein Vater und ich haben bis letzte Woche sowas wie ein Liebesleben gehabt. Bevor ihn der Schlag geholt hat. – Wenn ich mir die schwarzen Halterlosen angezogen hab, ist er noch immer ganz gut in Fahrt gekommen.“

Die Mutter bestellte noch ein Bier und einen weiteren Schnaps, und er sagte nichts dazu, weil er gerade recht peinlich berührt war von den intimen Geständnissen seiner Mama. Es war mehr als vierzig Jahre her, als er das letzte Mal mit ihr über Sex gesprochen hatte. Oder besser gesagt: Seit sie ihn auf Geschlechtliches angesprochen hatte.
Damals hatte sie einen Präser auf den Küchentisch gelegt. „Weißt Du, was das ist? Weißt Du, wozu man das braucht?“, hatte seine Mutter gefragt. Er hatte in jenem Moment nur stumm genickt, das Gesicht knallrot vor Scham.
„Dann bitte: Verwend‘ es auch. Und sag Bescheid, wenn Du mehr brauchst.“ Die Mutter hatte eine ganze Schachtel neben den einzelnen Gummi gelegt und ihn damit in der Küche allein gelassen.
Und jetzt kam sie ihm auf einmal mit ihrer Reizwäsche und deren Effekt auf den verblichenen Vater. Auch er gab der Kellnerin noch einen Schnaps auf. Das musste er erst einmal verdauen.

„Weißt, es ist nämlich im Grunde völlig egal ob Du siebzehn oder siebzig bist“, führte die Mutter das Thema fort. „Deine Gedanken kreisen immer um das Gleiche. In den Zwanzigern suchst Du die oder den, mit dem es passen könnt‘. Und wenn es nicht passt, mit wem es besser sein könnt‘, mit wem Du es lieber treiben möch’st. Mit dreißig bist Du ungeduldig, mit vierzig frustriert, und mit fünfzig findest Du langsam die Ruh‘. Etablierst Dich, arrangierst Dich. Weil attraktiver wirst nicht mehr. Und schön ist es auch mit dem, den Du hast. Zumindest wenn Du dafür sorgst, dass es noch prickelt. Und noch ein bisserl später prickelt es vielleicht nicht mehr. Aber schön ist es immer noch, und immerhin hast noch einen dafür. Fürs Anfassen, fürs Kuscheln. Weil das brauchst auch dann noch.“

~

Er sah seiner Mutter noch lange nach, wie sie vom Gasthaus nach Hause ging. Sie hatte sich nicht begleiten lassen wollen und setzte da draußen auf der Straße einen Fuß vor den anderen, eine verletzlich wirkende Gestalt, die mit jedem Schritt kleiner wurde; der man allerdings nicht ansah, welches Geständnis sie gerade ihrem Sohn anvertraut hatte.

Der Anblick brach ihm das Herz.

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Große Erwartungen

Große Erwartungen

Frau Tikerscherk reicht elf Fragen weiter an Mitbewohner des Internetzes. Ich bin einer ihrer acht Auserwählten, danke sehr. Weil ich die Tikerscherk mag und weil mich die Fragen interessieren, antworte ich mit Vergnügen. Also, here we go:

1. Eine Abenteuerreise wartet auf Sie. Was wäre für Sie das absolute Abenteuer?

Das hatten wir schon mal, das ist einfach: „Ich würd‘ ja gern mal die Panamericana mit dem Motorrad von Alaska bis Feuerland durchfahren. Das will ich schon, seit ich siebzehn war.“ – Stand 1977. Dem gibt es noch immer nichts hinzuzufügen. Punkt.

2. Sie dürften bestimmen, wer eine Spende von 10.000 Euro bekommt. Wer wäre das und warum?

Dies wäre jetzt die Bühne für einen großherzigen Appell: Spendet für …
Aber wofür denn eigentlich? Katastrophenopfer? Flüchtlinge? Obdachlose? Drogenopfer? Griechenland? – Keine Frage, die brauchen alle Geld.

Dürfte ich tatsächlich über zehntausend Euro verfügen, würde ich mich wahrscheinlich trotzdem anders entscheiden. Ich glaube ganz fest an die nächste Generation und würde deshalb in die Bildung unserer aller Kinder und Kindeskinder investieren wollen.
Wenn Sie also etwas übrig haben, dann spenden Sie an die Fördervereine unserer Schulen. Insbesondere an die Freien Schulen, wegen der Bildungsvielfalt und weil die Freien vom Staat ohnehin nicht üppig bedacht werden.
Das würde jedenfalls ich mit diesen zehntausend Euronen machen.

3. Für einen Tag dürften Sie in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Von wem wüssten Sie gerne, wie sich sein Leben anfühlt?

Nun ja, das sollte wohl jemand sein, der mich persönlich interessiert, bei dem ich aber Probleme habe, ihn oder sie zu verstehen. Alles andere würde keinen Sinn ergeben; wieso sollte ich einen Tag lang Wladimir Putin oder Helene Fischer sein wollen? *grusel*
Ich glaube, ich wäre ganz gerne einen Tag lang Frau Kerstin, also eine Dame Granate aus dem Bekanntenkreis meines echten Lebens, deren Verhalten mir Rätsel aufgibt. Ich wüsste in der Tat nur zu gern, wie sich ihr Leben anfühlt.

4. Und welches Tier wären Sie gerne, wenn das möglich wäre?

Oh! Schon wieder ganz einfach. Ich oute mich jetzt und gestehe, dass ich ein Katzenmensch bin. Die Menschheit teilt sich ja bekanntlich in Katzen- und in Hundemenschen. Ich bin definitv ein Katzenmensch.
Gern wäre ich Chakamankabudibaba, obwohl ich dann meine beiden Bällchen aufgeben müsste. Aber glücklicherweise handelt es sich ja um eine hypothetische Frage.

5. Hat schon mal ein Traum Ihr Leben beeinflusst?

Nein. Meine Träume sind immer sehr flüchtig.

6. Lieblingsbücher liest man gerne mehrfach. Welches haben Sie am häufigsten gelesen?

Sin noticias de GurbOh je. Das wird jetzt ganz sicher eine Enttäuschung für die Leserschaft, tut mir wirklich leid. Mein am häufigsten gelesenes Buch ist zweifellos ein dünnes Bändchen, keine 150 Seiten, von Eduardo Mendoza mit dem Titel Sin noticias de Gurb, das nie ins Deutsche übersetzt wurde.
Aus gutem Grund: Es geht um die Landung zweier Außerirdischer in Spanien. Einer von ihnen, ein sehr pragmatisch veranlagter Alien namens Gurb, begibt sich unter Menschen, erlebt und meistert zum Vergnügen der Leserschaft das Grauen des spanischen Alltags. Der andere, Pedant buchhalterischen Zuschnittes, verbleibt im Raumschiff und konstatiert Tag für Tag kopfschüttelnd im Logbuch des Raumschiffes: Sin noticias de Gurb. – Keine Nachricht von Gurb.
Leider komplett unübersetzbar. Das wäre, als versuchte man, zum Beispiel Karl Valentin oder Dall oder Loriot ins Spanische zu übertragen. Absolut hoffnungslos.

Mindestens schon hundertmal gelesen. Ich kann das fast schon auswendig. Was wiederum sehr lustig sein kann: Sehr viele Menschen, mit denen ich irgendwann auf das Thema Herkunft und Sprachen zu sprechen komme, fragen nach: „Du kannst Spanisch? Echt? Sag doch mal was!“ – Wieso wollen die das eigentlich hören? Ich meine, heutzutage kann man doch jederzeit einen spanischen Radiosender aus dem Internet abspielen, wenn man jemanden die Sprache sprechen hören will? (Aber ich schweife ab …)
Jedenfalls zitiere ich auf diese Frage hin gern Passagen aus Sin noticias de Gurb. Ich meine, was soll man auch sonst sagen, wenn einen das Gegenüber sowieso nicht versteht.

7. Wenn Sie in ein anderes Land fliehen müssten, dessen Sprache Sie nicht sprächen und wo Ihre Berufsausbildung nicht anerkannt würde, mit welchen Fähigkeiten könnten Sie sich den Lebensunterhalt verdienen?

Also sozusagen: Ich als Flüchtling anderswo? – Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Regionalsprache, welche auch immer, innerhalb von ein, zwei Wochen so hinbekäme, dass ich als Dolmetscher für andere, weniger Sprachbegabte auftreten könnte.
Ob das finanziell tragfähig wäre, ist natürlich eine gute Frage, und was sich danach ergäbe, das wissen die Götter …

8. Verraten Sie uns ihr Lieblingsrezept (für diejenigen, die nicht kochen oder backen: Ihr Lieblingsgericht)?

Ich muss für niemanden kochen? Keine Wünsche berücksichtigen? Keine Vegetarier, keine Veganer bedienen?

Dann wähle ich Münchener Weißwürscht. Entweder frisch aus einer Metzgerei der Region, alternativ vom Vinzenz Murr, oder – falls im Exil – die Fünferpackung von Aldi. (Eine echte Empfehlung für Exilanten!)
Die Würscht in heißem Wasser ohne Topfdeckel ein Viertelstündchen bei halber Hitze ziehen lassen, bitte drei Stück für mich.
Dazu selbst im Ofen aufgebackene Salzbrezen, Butter und süßen Weißwurstsenf, notfalls vom Händlmaier, der weltweit in den Supermarktregalen vorrätig ist.
Extrem wichtig: Als flüssige Begleitung eine Halbe Weißbier, Hefeweizen, Weizen, Hefeweißbier.

Dies alles etwa um das Mittagsläuten herum eingenommen und danach wochenendliches Abhängen. – Holladriöh! Göttlich!

9. Unter Ihrem Balkon soll jemand ein Ständchen singen. Sie dürfen sich Sänger_in und Lied wünschen. Also, wen und was wünschen Sie sich?

Das ist eine blöde Frage, finde ich. Unter meinem Balkon soll bitte niemals jemand singen, wie peinlich wäre das denn! Ich bin doch nicht Julia oder Romeo.
Aber wenn trotzdem unbedingt da unten jemand singen muss, dann bitte diese drei Gestalten um die Sängerin Luz Casals; die da unten im Video. Allerdings unabdinglich mit dem Leadgitarristen in Jogginghose!
Stellen Sie sich bitte das mal vor: Der Wortmischer im Schlafanzug auf dem Balkon mit einem Glas Rotwein in der Hand, eine Zigarre in der anderen, huldvoll winkend; die Nachbarschaft auf hundertachtzig; und da unten die gute Luz und ihre bizarre Combo: ¡Piensa en mi! – „Denk an mich, wenn Du leidest …“
Boah, was für ein Aufstand!

10. Auf welche fünf Lebensmittel können Sie nicht verzichten?

Kaffee, Kaffee, Kaffee, Kaffee und Kaffee. Frisch gemahlen, bitte. – Schon mehrfach ausprobiert: Einzig auf den Kaffee mag ich nicht verzichten. Alles andere ergibt sich.

11. Die Elf ist die Zahl des Narren. Wenn Sie sich denn verkleiden würden, als was würden Sie zum Karneval gehen?

Der Narr ist mir eine lieb gewordene Figur. Nicht umsonst lautet der Titel meiner Facharbeit im Abiturleistungskurs Englisch „Die Rolle des Narren in den Bühnenstücken von Shakespeare“.
Andererseits verabscheue ich die organisierte Karnevalsheiterkeit jeglicher Couleur. Würde mich jedoch jemand zu einem Auftritt in der lokalen Karnevallerei überreden, etwa die Frau Kerstin aus Frage 3, so würde ich mich vermutlich … nein, nicht schnöde verweigern … ja, doch … als Sträfling maskieren, also mit schwarz-weiß quergestreifter Hose, Oberteil und Häubchen. Häftlingsnummer nicht zu vergessen, auf der Haube und tätowiert auf dem Unterarm (wichtig!).
Der Gefangene in grausiger Kollektiverheiterung, melodramatische Situation. Innere Revolte trotz äußerer Anpassung. – Na, hören Sie mal. Was sonst kann man denn tun in verzweifelter Situation?

~

Da ich bekanntlich Probleme mit Kettenbriefen habe, werde ich keine Nachfolger für das Stöckchen von Frau Tikerscherk nominieren. Es bediene sich, wer wirklich und aus ganzem Herzen auf die oben stehenden 11 Fragen antworten möchte. – Nur zu und schon mal im Voraus vielen Dank!

Kleider machen Leute – A bis Z komplett!

Kleider machen Leute

Es ist geschafft: Das Kleider-Alphabet ist jetzt komplett. Zwischen dem 5. Januar und dem 23. Februar 2016 habt Ihr es gemeinsam fertig gebracht, zu jedem der 26 Buchstaben des Alphabets mindestens zwei Geschichten zu schreiben und hier verlinken zu lassen. In der Tat ein Projekt der Superlative:

  • Insgesamt 94 Texte zu den verschiedensten Kleidungsstücken
  • 35 Teilnehmer mit sehr unterschiedlich ausgerichteten Blogs
  • Der kürzeste Beitrag zählt gerade mal 16 Worte, der längste weit über 1.000. (Um genau nachzuzählen, war ich zu faul.)
  • Es gibt lustige, traurige und freche Texte, ein paar enzyklopädische Beiträge und sehr viele Erinnerungen der Autoren.

Ich bin sehr angetan von den vielen und vielfältigen Texten der Teilnehmer und bedanke mich ganz herzlich bei Euch allen. Hier seid Ihr nochmal, in alphabetischer Reihenfolge:

Adria S. Uno ~ Auxkvisit ~ Beat ~ Dorothea ~ Edith ~ Frogg ~ Heinrich ~ Jaelle Katz ~ Jongleurin ~ Karu ~ KaterMurr21 ~ Katiza ~ Lakritze ~ La-Mamma ~ Leisetöner ~ Lunarterminiert ~ Mechatroniker ~ Mitzi Irsaj ~ Nömix ~ Nora ~ Novemberregen ~ Ösi ~ Poppkörnchen ~ Rosenherz ~ Ruth ~ Smamap ~ Spätlese ~ Solminore ~ Stancer ~ Testsiegerin ~ Tikerscherk ~ Trithemius ~ Vibesbild ~ Voita ~ Wortmischer

Donnernder Applaus an Euch alle, die Ihr mitgemacht haben. Und vielleicht bis zum nächsten Projekt zum Mitschreiben …

Beste Freunde

Tochter 3.0 hat einen Freund, den A. Ganz offiziell. Wir hätten früher gesagt: „Die gehen miteinander“. Die zwei ziehen sich schon mal gern zurück ins Zimmer der Tochter. Manchmal liegen sie auch in unserem türlosen Wohnzimmer auf der Sofalandschaft vor dem Fernseher herum und kuscheln. Sollen sie doch, ich hab kein Problem damit.
Wir sind da zwischen Tochter und Vater im Reinen: Ich habe ihr meinen wohlmeinenden, väterlichen Aufklärungssermon vorgetragen, einschließlich eines Angebotes, ihr beim Erwerb von sinnvollen Utensilien behilflich zu sein; sie belächelte meine Initiative und gewährte mir einen Blick in ihre Handtasche, in der ich einen aluverpackten Präser Billy-Boy entdeckte. So weit, so gut.
Etwas irritiert war ich allerdings über die Besuche eines zweiten jungen Mannes, des S. Den kennt Tochter 3.0 seit zehn Jahren, er besucht die gleiche Schulklasse wie sie. Ich mag den S. sehr, sehr gern leiden, ein Klassetyp. Die beiden kochen zusammen, backen, basteln Geburtstagsgeschenke und üben Tanzschritte zu Choreografien aus dem Sportunterricht. Alles ganz normal, geradezu herzergreifend harmonisch. Teenagerig, sechzehnjährig. – Nur: Auch mit dem S. kuschelt Tochter 3.0 ganz gern auf dem Sofa vor dem Netflix-Programm.
Doch weder die Tochter, noch der S. und noch nicht einmal der A. scheinen über die vermeintliche Zweigleisigkeit des Mädchens sonderlich viel Aufhebens zu machen. Beide Jungs wissen voneinander, kennen einander und mögen sich scheinbar sogar, soweit ich das beurteilen kann. Nicht unbedingt ein Dilemma für den stirnrunzelnden Vater, aber doch eine Sache, die ihn ab und zu nachdenklich werden ließ. Nachdenklich zumindest bis vor zwei Wochen, als Tochter 3.0 sehr beiläufig erwähnte, der Kuchenbacke- und Tanzfreund S. sei gerade schlecht verfügbar, weil er einen neunen Freund habe. Also einen „Freund“.

Jedes Mädchen braucht einen besten schwulen Freund, denke ich, obwohl mich da vermutlich Mitzi Irsaj zurückpfeifen würde. Und dann fällt mir wieder das größte Missverständnis in Liebesdingen ein, das mich selbst einst ereilt hat.

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Damals war ich noch mit der J. zusammen. Richtig, gut erkannt: Mit der Frau aus dem Zelt auf dem französischen Campingplatz.
Allerdings stand unsere Beziehung mittlerweile auf der Kippe. Mehr Streit, weniger Liebe. Sie wissen, was ich meine; einfach Mist also. – Da lernte ich eines Tages J.’s beste Schulfreundin kennen, eine gewisse Barbara, Salzburgerin, Tochter eines Strumpfindustriellen. Die war ein Bündel sprühender Energie und abgrundtiefen Chaos‘ gleichermaßen. Barbara faszinierte mich, um nicht zu sagen: verzauberte mich.
Als die Beziehung mit der J. den Bach runter war, ging ich zum generalstabsmäßigen Großangriff auf Barbara über. Also nicht, was Sie vielleicht denken: Blumen und romantische Sprüche. – Nein, ich plante den Angriff auf Barbara akribisch im Detail:
Womit befasste sie sich in ihrem Studium? Ich wurde zum Experten in Marktwissenschaft bezüglich der europäischen Strumpfindustrie … Was aß sie gern? Ich besorgte mir einen riesigen (gebrauchten) italienischen Nudelwolf mit Handkurbel, der meine Küche gnadenlos verschandelte … Welche Musik hörte sie? Damals wurde ich Fan der österreichischen Liedermacher, insbesondere von Wolfgang Ambros …

Ich attackierte wie Blücher. Erfolglos. Kaum zu glauben. Diese ganze Charmoffensive für die Katz? Ich begriff das nicht. – Bis mich Barbaras älterer Bruder eines Tages auf dem Familienurlaubssitz in den Alpen, als wir alleine waren, ganz nebenbei beim Frühstück fragte: „Sag mal, Du weißt aber schon, dass Babsi auf Frauen steht, oder?“

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Das Verhältnis zwischen Barbara und mir veränderte sich im Nachgang zu ihrem passiven Coming-Out durch den Bruder. Es dümpelte, um ehrlich zu sein; mein Elan war angeschlagen. Trotzdem scharwenzelte ich weiterhin um meine Flamme herum. Ich hatte ja sonst gerade nichts Besseres zu tun.
Den Todesstoß versetzte dann Barbara unserer grotesken Beziehung, als sie mir eines Tages einen Kuss auf die Lippen setzte und anmerkte: „Weißt Du, als Du mir noch an die Wäsche wolltest, warst Du mir eigentlich lieber. Interessanter. Spritziger.“

Die Sache mit der Lesbe wenigstens als beste Freundin, wenn schon nicht als Freundin, konnte ich mir abschminken. – Vielleicht hat Tochter 3.0 mit dem S. mehr Glück.

Die Notwendigkeit, sich zu verlieben

Antje Joel „hat in der Liebe schon viel versucht. Besonders gut gegangen ist es nicht. Inzwischen ist sie so lange allein, dass sie sich fragt, ob da wohl noch was kommt – und ob sie das überhaupt will.“
SZ Magazin, 51/2015: Herzstillstand

Antje Joel schaut Nichtliebesfilme

Ich muss Euch unbedingt diesen Artikel aus dem Magazin der Süddeutschen Zeitung ans Herz legen. Die Samstagsbeilagen der SZ liegen bei meinen Eltern immer auf der Toilette herum, und wenn ich zu Besuch bin, blättere ich schon mal gern darin. Auf diese Weise bin ich auf die Nicht-Liebesgeschichte von Antje Joel gestoßen.
Sie erzählt darin Episoden über Männer, die sie enttäuscht haben. Und warum sie sie enttäuscht haben. Gut, solche Geschichten kann wahrscheinlich jede(r) aus seinem Leben berichten; ich habe bis jetzt auch mit mehr Frauen Schluss gemacht als andersherum. Immer aus Gründen. Daran ist nichts Besonderes.

Das Besondere an Frau Joels Text ist die Konsequenz, die sie inzwischen zackig gezogen hat. Sie erklärt ihre „Männerjahre“ für beendet, stellt – zwar ein bisschen über sich selbst verwundert – fest, dass ihr trotzdem nichts fehlt. Dann betreibt sie Ursachenforschung und stellt eine interessante These in den Raum:

In einem Interview […] las ich, die Fähigkeit, sich zu verlieben, gründe in denselben Bereichen des menschlichen Gehirns wie die Fähigkeit zu glauben. […] Möglicherweise schafft der, der nicht mehr zu glauben schafft, auch nicht mehr, sich zu verlieben. Vielleicht ist das Bedürfnis, sich zu verlieben, wie das Bedürfnis zu glauben, nur eine Phase. Die man in seinem Leben durchlaufen und überwinden muss. Auf dem Weg zu sich selbst. Und je näher man sich kommt, umso geringer das Bedürfnis.

Diese Vermutung anzunehmen, fällt mir gar nicht schwer. Überhaupt habe ich mich beim Lesen der Lebensliebesgeschichte von Antje Joel immer wieder auf merkwürdige Weise ertappt gefühlt. Oh Gott, wieso schreibt die das denn jetzt? Das habe ich doch selbst schon so oft gedacht.
Oder: Wie wahr, wie wahr; das hab ich auch schon so erlebt. Einer meiner Lieblingsabsätze des Artikels in dieser Hinsicht ist Joels Nagelprobe zu ihrer Annahme, sexuelles Verlangen könne bei Bedarf sicher wieder erweckt werden:

[…] Um meine Theorie bezüglich des wieder erweckbaren sexuellen Verlangens zu prüfen, nahm ich den Musikmann mit nach Hause. […] Leider konnte er keinen Sex haben, ohne von Liebe zu quatschen. Nach der ersten Nacht nannte er uns seinem Geschäftspartner, seinen Freunden und seiner Ex-Frau! gegenüber »zusammen«. Meinen Ärger darüber kommentierte er mit einem Stirnrunzeln und dem Begriff »bindungsunfähig«.

Obwohl die Autorin eine Frau ist und ich ein Mann bin, sind wir in Hinblick auf Denkprozesse und Überlegungen vermutlich ähnlich gestrickt. Es ist, soweit ich mich erinnere, noch nie vorgekommen, dass ich einen Magazinartikel gleich dreimal direkt hintereinander durchgelesen habe. Diesmal aber schon. Und seither knabbert mein Unterbewusstsein an dem Text wie ein Hund am Knochen, den man ihm vorwirft.

Irgendwie will mir dieser echt harte Knochen nicht so recht schmecken. Er macht beim Schlucken des Speichels jedes Mal so einen bitteren Nachgeschmack, so ein Gefühl, dass man dafür noch nicht bereit ist. Andererseits sieht man dem Knochen aber an, dass er wahr und wahrhaftig ist. Ohne Fehl und Tadel. So makellos, dass ich keinen Ansatzpunkt für Widerspruch finde.
Mal sehen, ob ich mir an ihm die Zähne ausbeißen, oder ihn doch noch lieber für eine Weile im Garten vergraben werde.

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Wenn Sie also Single > 45 sind, oder planen erwägen, mit > 45 Single zu werden, dann sollten Sie dem Link ganz oben in meinem Text folgen und aufmerksam lesen. Die Lektüre schadet auch ganz sicher nicht, wenn Sie es vorziehen sollten, mit Ihrem Partner zusammenzubleiben. Oder wenn Sie < 45 sind. In diesen beiden Fällen erweitert die Geschichte zumindest Ihren gedanklichen Horizont.

So, und ich ich gehe mir gerade mal diesen Film „Sodbrennen“ mit Meryl Streep und Jack Nicholson besorgen. – Ein schönes Wochenende, Euch allen!