Auf die Zukunft

„Die Fabrik und Herr Wortmischer sind sich darüber einig, dass das zwischen ihnen bestehende Anstellungsverhältnis im gegenseitigen Einvernehmen unter Einhaltung der Kündigungsfrist am 30. Juni 2013 endet.
[…]
gez. Oberaufseher der Fabrik
gez. Wortmischer“

Puh! – Erstaunlich ist, dass dieser Wortlaut tatsächlich einhundertprozentig die beidseitige Stimmungslage widerspiegelt. Es kann nur besser werden. Auf die Zukunft!

12.12.12, 12:12

Spanische BriefmarkeLiebe Leser,

als junger Wortmischer habe ich zu solchen Gelegenheiten Briefe geschrieben. Und auch bekommen. Meine Patentante zum Beispiel war eine, die kein Schnapsdatum vergessen hat und mir immer gute Wünsche in einem gefütterten Kuvert mit Sonderbriefmarke und dem emblematischen Poststempel zukommen hat lassen. Ich erinnere mich noch an das erste Mal zum 6. Juni 1966. Damals konnte ich gerade so lesen, selbst schreiben war noch nicht drin.

Die nächste Gelegenheit kam elf Jahre später. Im Juli 1977 habe ich nicht nur der Tante sondern auch der I. geschrieben, meiner damaligen Flamme. Das würde heutzutage™ kein Mensch mehr machen und „Flamme“ sagt auch niemand mehr. Aber damals hatten wir ja nichts; keine SMS, kein Twitter, und ich weiß gar nicht, ob das Telefon überhaupt schon erfunden war?
Weitere elf Jahre später – es war das Jahr, ich erinnere mich, in dem kurz nach dem Schnapsdatum auf einer Flugschau im deutschen Rammstein 70 Menschen starben – war ich im August kurz davor, einen Job in Barcelona anzutreten. Deshalb bekam in diesem Jahr nur mein Tantchen einen Brief, ziemlich knapp gefasst und mit einer hässlichen Standardbriefmarke der spanischen Correos.

Zeitsprung, Quantensprung: Im September 1999 war meine Tochter 3.0 gerade mal zwei Monate alt. Das war natürlich die Gelegenheit, der ganzen Familie Post mit Versandstempel vom 9.9.99 und einem Foto zukommen zu lassen. Das war auch das letzte Mal, dass ich ein Schnapsdatum zum Anlass für Briefeschreiben genommen habe. Denn zum einen erleben wir seit 2001 geradezu eine Inflation solcher „besonderer Tage“, so dass der Seltenheitswert schwer nachgelassen hat. Zum anderen hat sich auch mein Kommunikationsverhalten komplett verändert. Post auf Papier bekomme ich nur noch von Versicherungen, Versorgungsunternehmen und dem Finanzamt; und ich weiß gar nicht mehr, wann und an wen ich selbst meinen letzten Brief geschrieben habe. Und wer wird sich schon für eine lumpige E-Mail mit Versanddatum 11.11.11 interessieren? Mein Tantchen jedenfalls gewiss nicht. Die hat nämlich keinen PC.

~

Heute aber muss noch einmal geschrieben werden. Nicht auf Papier, Gott bewahre. Aber ins Internetz. Denn jetzt dauert es wieder fast zehn Jahre bis zur nächsten Gelegenheit. Bis zum 2. Februar 2022 dann also.

Zwölfendige Dezembergrüße
von Eurem Wortmischer

Auf dem Weg zur Fabrik

Auf dem Weg zur Fabrik

… heute Morgen geriet ich kurz ins Wanken. Nicht körperlich wegen des weißen Bodenbelages sondern geistig, weil es einfach zu schön gewesen wäre, nach dem Aufnehmen dieses Bildchens umzukehren, den Blaumann in den Schrank zurück zu hängen und in dicker Jacke und Stiefeln mit der Kamera auf den Berg zu steigen.

Hab ich dann aber doch nicht gemacht.

Was sind eigentlich Duttln?

Als unlängst Tochter 3.0 mit dieser unerwarteten Fragestellung an mich herantrat, geriet ich in Erklärungsnot. Zwar wäre ich durchaus in der Lage gewesen, der Tochter ihre Frage in vier knappen Worten zu beantworten, etwa so: „Duttln sind österreichische Titten.“

Aber das wollte ich nicht. So eine Antwort kann man einer Dreizehnjährigen nicht geben, finde ich. Vielmehr fragte ich mich, woher ein solcher Ausdruck aus südlichen Gefilden im Rhein-Mainischen mein Kind erreichen konnte.

Ich mache es kurz: Tochter 3.0 hatte im E-Reader gestöbert und dort die Geschichte der Josefine Mutzenbacher entdeckt. Was mir zunächst etwas peinlich war. Aber andererseits kann man die Kinder nicht früh genug an Literatur heranführen. – Fragen Sie doch mal den Herrn Buddenbohm. Der unterstützt diese These sicherlich.

Der Rest der Welt: Les Corts

Herr Buddenbohm & Söhne haben eine Aktion mit Stadtteilbeschreibungen losgetreten, an der sich mittlerweile längst nicht nur Hamburger beteiligen. Da will auch ich mich anschließen, obwohl „mein Stadtteil“ ein paar tausend Kilometer von Hamburg entfernt liegt.

~

Ich behaupte einmal provokativ, völlig subjektiv und gewappnet gegen alle Arten von Widerspruch: Die schönste Stadt der Welt ist Barcelona. Nachdem diese wichtige Feststellung getroffen ist, sei angemerkt, dass Barcelonas Stadtfläche klein ist, da sie im Südosten vom Mittelmeer, im Norden und Osten von einer Hügelkette und im Nordwesten von unzähligen, eng gestaffelten Vororten und zuletzt von den Ausläufern der Costa Brava eingepfercht wird. Nichtsdestoweniger gibt es viele verschiedene Stadtteile, von denen die Touristen wahrscheinlich nur die wenigen emblematischen kennen: allen voran das Barrio Gótico und das Barrio Chino links und rechts von Las Ramblas, der Tourimeile, auf der sich täglich und nächtlich die Besuchermassen hinunter zum Hafen drängeln und sich von den Trickdieben ausnehmen lassen; oder Sant Gervasio und Pedralbes am Fuße des Tibidabo, den beiden Wohnvierteln für die Besserverdiener der Stadtbevölkerung; oder vielleicht sogar den neuen Hafen mit Strand, Amüsiermeile und frisch entstandenen, teuren Wohnbauten. Eventuell kennt der eine oder andere auch das Eixample, das Reißbrettviertel mit viel Altbausubstanz und rechtwinkelig angelegten Straßenzügen wie in Manhattan, das gegen den Strich nur von der Durchfahrtstraße Avinguda Diagonal durchzogen wird.

~

Aber wer wohnt dort schon. Ich meine: wer will es sich leisten in einem dieser Stadtviertel zu wohnen. Mein Viertel, mi barrio, mi barrí ist Les Corts.

Wenn man mit der Metrolinie 5 nach Westen in Richtung Cornellà fährt und an der Station Collblanc aussteigt, steht man an einer Straßengabelung, an der der Verkehr tosend an einem vorbeirauscht. Aus dem Westen kommen die Fahrzeuge aus den Vororten Esplugues, Sant Just Desvern und Cornellà über die Carretera de Collblanc heruntergerast, an Dir vorüber und weiter nach unten, nach Osten, in Richtung Plaza España. Und aus dem Nordosten strömen die Fahrzeugmassen aus der Innenstadt über die Travessera de Les Corts an Dir vorbei in Gegenrichtung in die Vororte.

Hier wird es niemals ruhig, weder am Tag, noch in der Nacht. Es gibt einen großen Zeitungskiosk neben einem kleinen Park, Supermärkte, Schuhgeschäfte und einen Weinkeller, in dem Dir die Angestellten preiswerten Wein aus riesigen Holzfässern in mitgebrachte Plastikkanister abfüllen. Ein paar hundert Meter in Richtung Plaza España liegt ein Markt, in dem Du frischen Fisch, Fleisch, Obst und Gemüse bekommst – nicht in der großartigen Aufmachung des berühmten Mercat de la Boquerìa an den Ramblas, aber dennoch in riesiger Auswahl. Diese Ansammlung an Geschäften in hoher Konzentration ist sehr wichtig für die Anwohner, da man den Einkauf mit dem Auto direkt vergessen kann. Man geht besser zu Fuß.

Wenn Du allerdings an der Metrostation Collblanc in Richtung Norden in die Avinguda de Sant Ramón Nonat einbiegst, wird es schnell ruhiger. Du gehst an einem der winzigen, blau-weißen ONCE-Stände vorbei, in dem Dir ein Mitglied der Nationalen Blindenorganisation Spaniens Glückslose verkauft, kommst an der Pfarrei Sant Ramón Nonat und einem Blumengeschäft vorbei sowie an einer Bäckerei, in der das Personal Bestellungen nur auf Katalan beantwortet. Schließlich erreichst Du die Calle Cardenal Reig, eine zweispurige Wohnstraße, an der rechts und links Hochhäuser in den Himmel ragen. An dieser Ecke biegst Du nach links ab und stehst nach ein paar Metern vor einer der typischen spanischen Bars mit blau-rot gestreiften Markisen. Wie diese Bar tatsächlich heißt, weiß ich gar nicht. Für uns war es immer die „Bar del Toni“, mein erweitertes Wohnzimmer, über dem sich im dritten Stock meine erste und beste Wohnung in Barcelona befindet.

Bei Toni beginnt jeder Tag mit einem café con leche und er endet dort mit einem Bier, Tapas oder einem bikini, einem Toastsandwich mit Käse und Schinken. Bei Toni kann man übrigens prima Fußball gucken, am liebsten alle Barça-Heimspiele mit Bild aber ohne Ton. Den Ton braucht man nicht, weil das Stadion Camp Nou nur ein paar hundert Meter entfernt liegt und die Originalgeräuschkulisse zehnmal besser als das Fernsehgequake ist.

Zum Zweck des nächtlichen Ausgehens ist das Viertel Les Corts nicht besonders geeignet; es sei denn, man steht auf Straßenstrich. Direkt links vom Fußballstadion steht nachts das horizontale Gewerbe bereit für jede Art der sexuellen Dienstleistung. Allerdings heißt es aufgepasst, da vermutlich die Hälfte der Damen ausgesprochen hoch gewachsen, muskulös gebaut und nicht unbedingt jeder Manns Sache ist. Wer hier lieber passt, setzt sich in die Metro und fährt hinunter zu den Restaurants und Clubs im Eixample oder in der Hafengegend, mehr als zwanzig Minuten ist man nicht unterwegs. Bei der Rückkehr in den frühen Morgenstunden kann man an der Metro Collblanc noch in die Churrería einkehren, um eine Tasse Schokolade mit churros, einem frittierten und gezuckerten Spritzgebäck, zu schlemmen, bevor man sich niederlegt.

Die Rambla an der Calle Cardenal Reig ist eher etwas für den frühen Abend. Sobald sich alle den Staub des Tages aus den Poren gespült, reichlich colonia (Kölnisch Wasser) auf- und frische Hemden angelegt haben, trifft man sich auf ein Bier oder ein Glas Wein oder einen carajillo (Espresso mit Schuss) auf der Terrasse bei Toni oder einer der anderen Bars in der Nähe, schwingt (end-)lose Reden und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen den strengen Katalanen und den Zugewanderte aus dem Rest Spaniens, man hört mindestens ebensoviel Kastilisch auf der Straße wie Katalan. Les Corts ist ein Mittelklasseviertel, dem der Dünkel der gehobenen Wohngegenden Barcelonas fehlt, auf der anderen Seite aber auch das Prekariat von Sants oder Cornellà abgeht.

~

Natürlich muss ich einräumen, dass viele deutsche Besucher in diesem Stadtviertel zunächst einmal in Schockstarre verfallen, wenn sie mit Verkehr, Lautstärke, Sauberkeit, Bausubstanz und Straßenkriminalität konfrontiert werden. Aber das gilt vermutlich für fast alle Wohnviertel in spanischen Großstädten. Es ist eben alles relativ. Und in Les Corts lässt es sich wirklich prima leben. – Und wer weiß: Würde ich noch immer dort wohnen, würde die Tochter 1.0 inzwischen vielleicht tatsächlich mit Tonis Sohn ausgehen, der nur ein paar Monate älter ist als meine Tochter. So wie Toni und ich das vor fast zwanzig Jahren geplant hatten.

Wenn das Schlachten vorbei ist

Man möchte ja meinen, dass es ausreichend literarischen Hintergrund in Deutschland gibt, um junge Menschen zum Lesen zu bringen. Aber trotzdem verdanke ich meine literarische Erweckung US-amerikanischen Schriftstellern. Für den kleinen Wortmischer in kurzen Hosen und Sandalen waren die USA in den sechziger Jahren das Land, in das an einem wüstenheißen Sommersonntag sein=mein Vater im Flugzeug zu einer mehrwöchigen Dienstreise aufbrach und meine Mutter, meinen jüngeren Bruder und mich in der wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik zurückließ. Wir drei Verlassenen kamen dann nicht ohne Schwierigkeiten vom Flughafen weg, da ausgerechnet an diesem Tag die Autobatterie des VW-Käfer ihren Geist aufgab und die technisch überforderte Mutter den quengelnden Söhnen Eis am Stiel spendieren musste, um sich ungestört der Suche nach einem Mechaniker widmen zu können. – Eislutschen am Straßenrand auf klebrig-heißem Asphalt, das war für mich Amerika.

Zehn Jahre später entdeckte ich die Romane von John Updike. Die Fortsetzungsserie um Harry „Rabbit“ Armstrong fesselte mich derart, dass ich die Geschichten sogar im Schulunterricht unter der Bank las. Erneut Jahre später stieß ich auf Thomas Coraghessan Boyles Romane. Boyle gehört heute zu meinen unangefochtenen Lieblingsschriftstellern, sein Roman Drop City ist eines meiner meistgelesenen Bücher, das leider nur in Taschenbuchfomat vorhanden und bereits ziemlich abgegriffen ist.

Genau an diesen Lieblingsroman, Drop City, erinnert mich T.C. Boyles letzter literarischer Erguss: Wenn das Schlachten vorbei ist.

Wenn das Schlachten vorbei ist

Parallelen bestehen vor allem im Aufbau der Handlungsstränge. In beiden Geschichten gehts es um Konfrontationen erbitterter Fanatiker, die letztlich nicht an sich oder dem Gegner scheitern, sondern an der gewaltigen Wucht der irdischen Natur. In beiden Romanen gipfeln die Feindseligkeiten in einem Showdown, den die Naturgewalten für sich entscheiden und die kämpferischen Protagonisten in ihre Schranken weisen.

Wenn das Schlachten vorbei ist spielt an der kalifornischen Küste und den vorgelagerten Inseln Anacapa und Santa Cruz. Die US-Naturschutzbehörden, verkörpert durch die japanischstämmige Alma Takesue, planen, die menschengemachte Rattenplage auf Anacapa sowie die ebenfalls duch Siedler eingeführte Überpopulation von Schweinen auf Santa Cruz zu beenden, um den ursprünglichen Tierarten wieder eine Chance zu verschaffen. Ihr Gegenspieler, der fanatische Tierschützer Dave LaJoy, will den Tiermord an Ratten und Schweinen mit allen Mitteln verhindern. Im Gegensatz zum Finale bei Drop City führt Boyle seinen neuen Roman keiner eindeutigen Entscheidung zu. Vielmehr ist es in den letzten Sätzen des Textes die Natur, die kein Gut oder Böse kennt, sondern sich unbeirrbar ihren Weg sucht.

Tierschutz hin, Tiermord her: T.C. Boyle ergreift nicht eindeutig Partei für die eine oder die andere Seite. Dafür aber glänzt er mit Passagen, die ich in Einzelfällen bereits hier an die Leserschaft gebracht habe, zum Beispiel die knappe Abrechnung mit der Ölindustrie oder seinen Verweis auf Auswüchse moderner Tierhaltung. – Mir gefällt nach wie vor Boyles sarkastische Schreibe, seine Gesellschaftskritik, die weiß, dass sie nichts ändern wird, aber dennoch nicht verstummt.

Darüber hinaus kommt – wenig überraschend – eben auch in diesem Buch die erstaunliche Fähigkeit des Autoren zum Tragen, seine Hauptfiguren derartig plastisch darzustellen, dass der Leser nicht umhin kann, in die Geschichte einzusteigen, ja geradezu hineingesogen zu werden. Ab und an möchte man der einen Figur direkt eine reinhauen für ihre Arschlochigkeit, oder einer anderen beiseite springen und rufen: „Jetzt reicht’s!“ –  Aber bei Thomas Coraghessan Boyle reicht es eben nie. Es geht immer weiter, unerbittlich bis zum absehbaren Ende.

Was ein bisschen nervt, sind Wiederholungen in Nebensächlichkeiten. Denn obwohl mir an Boyles Erzählungen eigentlich besonders gefällt, wenn seine Protagonisten sich gut auf ihre Aktionen vorbereiten – minutiöse Planung ist etwas Fesselndes, wenn sie gut beschrieben wird -, werden mir hier ein paar Butterbrote zu viel geschmiert für die ständigen Bootsfahrten zu den kalifornischen Inseln.

~

Insgesamt vergebe ich für Wenn das Schlachten vorbei ist drei von fünf möglichen Sternen. An Drop City kommt er nicht ganz ran, ist aber nichtsdestoweniger eine echte Leseempfehlung vor allem für Natur- und Tierschutzinteressierte. Ehrlich.