Wenn die Kinder groß sind

Indianer!

Das ist ja so ein geflügeltes Wort unter Eltern: „Wenn erst die Kinder groß sind, dann machen wir auch mal wieder was für uns.“ Kinogehen; stundenlang Bücher lesen; spontan mit Freunden verabreden; Kunstausstellungen besuchen ohne Sorge, ob der Nachwuchs sich anständig benimmt; am Wochenende ausschlafen; …

Jeder kann diese Liste nach eigenen Vorstellungen abändern oder ergänzen. Fakt ist, dass das tatsächlich stimmt mit der späten Besinnung auf sich selbst. Nun habe ich bekanntlich auf diesem immer enger werdenden Pfad zum Wenn-die-Kinder-groß-sind meine Ex-Herzdame, a.k.a. Schmerzdame, verloren, allerdings drei Jahre später eine neue Weggefährtin gefunden.
Und jetzt ist es tatsächlich soweit. Die ersten Male hatte ich noch so ein komisches Gefühl im Bauch, wenn ich mich am Sonntag kurz vor Mittag nach einer Tasse Kaffee und Kuscheln im Bett nochmal zur Seite drehte, um noch ein Stündchen zu dösen.

Inzwischen habe ich die Skrupel überwunden. Die vergangene Samstagnacht endete mit nachhallenden Drum-Rhythmen im Kopf und durchgeschwitzt am Rücken klebendem Hemd irgendwann in den frühen Morgenstunden; was zuletzt irgendwann in den Neunzigerjahren vorgekommen sein muss. Nach ausgiebigem Ausschlafen taperten wir gegen Sonntagmittag in den Veranstaltungsraum des Hotels zurück, in dem nachts zuvor diese Hochzeitsfeier stattgefunden hatte und in der nun ein spätes Frühstücksbuffet aufgebaut war. In der Deckenverkleidung des Raumes steckte noch immer der Armbrustpfeil, der etwa um Mitternacht aus Gründen, die ich nicht erläutern möchte, abgeschossen worden war.

Was ich sagen wollte: Wenn die Kinder groß sind, dann werden Mama und Papa endlich wieder unvernünftig.

Der Hieroldstand

Die Läden meiner Kindheit

„Wo willst Du denn schon wieder hin?“ Die Stimme meiner Mutter hatte mich eingefangen, bevor ich aus der Wohnung entwischen konnte. – „Zum Hieroldstand“, erwiderte ich kleinlaut, als hätte mich Mama bei einer Untat erwischt. Gerade hatte ich aus der Tiefe der Hosentasche meiner Krachledernen ganz unerwartet ein Fünfzigpfennigstück gegraben. Ein Geschenk des Himmels. Ein Geschenk, das es sofort in Süßigkeiten umzusetzen galt. Natürlich im Eckladen von Frau Hierold, zwei Straßenecken weiter, dort wo der Münchener Stadtteil Laim schon in den dörflichen Randbezirk Kleinhadern übergegangen war.
Meine Freundin, die Maria, würde nicht schlecht staunen. Fünfzig Pfennig! Dafür gab es eine Tüte mit zehn Brausestangen. Oder zwei Gummihalsketten mit Brauseperlen, eine für jeden von uns. Oder fünf Mohrenköpfe. Oder eine Domino-Eiswaffel und sogar Rückgeld! – (Man beachte bitte, dass wir uns damals in der Prä-Ü-Ei-Zeitrechnung befanden.)

Frau Hierold, eine weißhaarige Matrone, führte im Erdgeschoß eines Einfamilienhauses an der Straßenecke einen Tante-Emma-Laden, in dem sie alle Artikel des täglichen Bedarfs verkaufte. Für Sechsjährige wie mich bestand der tägliche Bedarf logischer Weise in erster Linie aus Naschzeug. Wir liefen durch den Vorgarten des Ladens zu einem Fenster, das im Sommer immer offen stand, stiegen auf einen Holzschemel unter dem Fensterbrett und beäugten diverse Glasgefäße mit Schraubverschlüssen, in denen sich unsere Zuckerträume befanden.
Schon als Erstklässler hatten wir das Kopfrechnen so weit im Griff, dass wir wussten, wie viele Brausestangen wir für die paar Groschen bekamen, die wir einstecken hatten. Aber notfalls drückte Frau Hierold an ihrem Verkaufsstand schon mal ein Auge zu und rundete zu Gunsten ihrer Kinderkundschaft großzügig auf. Wir tauschten unsere Pfennigbeträge gegen Papiertütchen, in die die Hierold alle Objekte unserer Begierde steckte, und zogen beglückt von dannen.

Für erwachsenen Kunden gab es eine Tür, die in einen kleinen Verkaufsraum führte, in dem in deckenhohen Regalen alles aufgereiht war, was Haushalte so brauchten: Toilettenpapier in Einzelrollen, Seifebarren, Bier- und Weinflaschen, Zeitungen und Zeitschriften …
Im Hintergrund des Raumes regierte Frau Hierold hinter einer Theke, schnitt Wurst und Käse auf oder bediente die Kundschaft durch das Fenster in den Vorgarten.

„Wenn Du zur Hierold gehst, bring bitte ein halbes Pfund Butter und fuffzig Gramm Aufschnitt mit, Putzi. Und eine Feinstrumpfhose. Hier haste zehn Mark, und vergiss das Wechselgeld nicht.“ Mein Mutter drückte mir zwei Fünfer in die Hand und schob mich aus der Tür.
Die Sache mit der Feinstrumpfhose musste Mama mir nicht genauer erklären. Frau Hierold kannte die Leute aus der Gegend. Und wenn der kleine Wortmischer bei ihr auftauchte und nach einer Strumpfhose für Mama verlangte, wusste sie, dass sie mir Fleischfarbene in der Konfektionsgröße 38-40 mitgeben musste. – Und obwohl ich damals nicht älter als sechs war, gab sie mir auch anstandslos zwei Flaschen Paulaner hell mit, wenn ich danach fragte. Bier für den Papa. Dafür brauchte Putzi keinen Altersnachweis.

~

Anfang der Siebzigerjahre war der Hieroldstand eines Tages geschlossen. Hinter dem Fensterglas hing ein handgeschriebenes Schild, noch in Sütterlin: „Geschäftsaufgabe“. Kinder hinterfragen so etwas ja nicht unbedingt. Wir gingen dann eben achselzuckend in den Supermarkt, der ein paar Straßen weiter aufgemacht hatte. Und die Strumphosen musste Mama sich eben selbst besorgen.

[lightgrey_box]Die Grafik da oben habe ich beim Nachbarn Trithemius geborgt, der dazu auffordert, in den Erinnerungen zu kramen und sich an seinem Erzählprojekt zu beteiligen. Was ich hiermit sehr gern getan habe. (Hier geht es lang zur Liste aller Projektteilnehmer.)[/lightgrey_box]

Kintopp

Tarzoon: Schande des Dschungels

Irgendwann muss man sich ja aus der C-Movie-Haftigkeit seines eigenen Lebens befreien. Und was würde sich hierfür besser eignen als Kino; gerade jetzt, wo die Wolken so tief hängen, dass sich die Beleuchtung meines Fahrrades sogar zur Mittagszeit automatisch einschaltet. Früher™ war ich ein fanatischer Kinogänger, der sich so ziemlich alles reingezogen hat, was die Lichtspielhäuser im Angebot hatten. Ich erinnere mich an einen Abend der Siebzigerjahre, als meine Freunde aus Protest geschlossen eine Vorstellung von Tarzoon: Schande des Dschungels verließen.
„Das ist pure Volksverdummung!“, skandierten sie. Nur ich blieb im Kinosaal sitzen, auch wenn die Penissoldaten der bösen Königin Bazonga tatsächlich jenseits jeden guten Geschmackes waren.

Frau A. geht auch gern ins Kino. Deshalb haben wir uns in den beiden vergangenen Monaten bereits mehr Filme angesehen, als ich während der letzten fünf Jahre.
Unsere erste Vorstellung verließen wir noch mit sehr gemischten Gefühlen. Bei Toni Erdmann scheiden sich ja die Geister. Ich empfand ihn als sehr schwere Kost und konnte zunächst überhaupt nichts mit dem loriothaften Hauptdarsteller mit dem falschen Gebiss und den völlig absurden Szenen anfangen. Ich musste während des Films immerzu an Vic Dorn aus einem von-Bülow-Sketch denken („Oder ist es zu kompliziert, die Maske abzunehmen?“ – „Wie? Was? Abnehmen?“).
Inzwischen denke ich gern an Toni Erdmann zurück. Ich glaube, das ist so ein Streifen, den man mehrmals ansehen muss, bevor man ihn richtig gut findet.

Danach kam Tschick an die Reihe. Den mochte ich auf Anhieb richtig gern. Fühlte sich für mich ein bisschen an wie ein aktueller Gegenentwurf zu Dustin Hoffmanns Reifeprüfung, in etwa so, als hätte man den Schlaks von damals fünfzig Jahre und zwei Generationen später nochmal neu aufgesetzt. Wahrscheinlich ist es die Swimming-Pool-Szene mit der Sonnenbrille, die mich die Parallele hat ziehen lassen.

Und zuletzt habe ich dann mit Tochter 3.0 und ihrem besten schwulen Freund den letzten Tarantino angesehen: The Hateful 8, einen Western in Überlänge, der schon fast ein Jahr alt ist.
Dies ist ein merkwürdiges Machwerk, das zweieinhalb Stunden lang zwischen blutspritzendem Gemetzel und einer Detektivgeschichte à la Sherlock Holmes oder Miss Marple hin und her schwankt. Mich hat der Blutrausch im Gegensatz zu anderen Tarantino-Filmen nicht gestört, diesmal passt der Gewaltexzess. – Ein sehr, sehr guter Film, den ich bestimmt noch ein paarmal ansehen werde.

Und Ihr so? Welchen Film muss ich Eurer Meinung nach unbedingt gesehen haben?

The Hateful 8

Eins nach dem anderen

Ich hab gerade so einen richtigen Lauf. Morgen um elf steh ich auf dem nächsten Friedhof am nächsten Grab. Zuletzt nach meiner Mutter ist jetzt meine Patentante an der Reihe; inzwischen der fünfte Todesfall 2016 in meinem nächsten Umfeld. Und soll ich Euch was sagen? Es sieht nicht gerade danach aus, als wäre das dann auch der letzte gewesen vor Silvester und Neujahr. Für meinen schwarzen Anzug hab ich jetzt ein Jahresabonnement in der Reinigung abgeschlossen. Da spar ich mir ein paar Hunderter.

Mein Arbeitgeber hat schon angekündigt, dass ich für die nächste Beerdigung keinen freien Tag mehr genehmigt bekomme. Vielleicht ist das auch ganz gut so, denn mittlerweile habe ich einige der Trauergäste öfter getroffen als zuvor über die vergangenen fünfzig Jahre hinweg. Inzwischen fühlt sich das fast schon so an wie die Dreharbeiten zu einem Film. – „Beerdigungsszene, die fünfte. Klappe!“

Das Leben kann manchmal makabrer sein als schlechte Bestatterwitze. Bei der vorletzten Beerdigung – der meiner Mutter, Klappe, die dritte! – stolperte nämlich einer der Trauergäste beim Niederlegen seines Blümchens und stürzte bäuchlings mitten auf das Grab. Wäre es keine Urnenbeisetzung gewesen, so wäre er in der Grube auf dem Sarg gelandet. Wie in einem schlechten, oberbayerischen C-Movie: Die Schmeißfliegen surren; Schweißbäche rinnen in Großaufnahme an Schläfen hinab; rotadrige Augäpfel ganz nah, die vom ewigen Enziansaufen wässrig geworden sind; und auf einmal – krach, Herrgott, hilf! – der Trauergast stürzt hinab in die Grube. Bestürztes chorales Seufzen, dann Schweigen, wieder Fliegensurren.
Aber der trockene Handkantenschlag ins Genick, der kommt noch. Aufgepasst & Vorsicht! Dieser Gast, der da auf dem Grab meiner Mutter landete, das war nämlich die besagte Patentante, die wir morgen unter die Erde bringen.

Da sag noch mal einer, mein Leben wäre kein C-Movie.

Genug ist nicht genug

Dass der Himmel heute so hoch steht,
kann doch wirklich kein Versehen sein.
Und es ist bestimmt kein Zufall,
dass die Lichter sich vom Dunst befrein.

Nichts wie runter auf die Straße,
und dann renn ich jungen Hunden hinterher.
An den Häusern klebt der Sommer,
und die U-Bahnschächte atmen schwer.

Dieser Stadt schwillt schon der Bauch,
und ich bin zum großen Knall bereit.
Konstantin Wecker, 1977, in Auszügen

Dieses letzte, gewaltige Aufbäumen des Sommers und meine neue, so unbändige Lebensfreude führen dazu, dass mein Leben jenseits des Büroschreibtisches fast nur noch im Freien stattfindet. Es steht ja auch nur allzu viel bereit an jeder Ecke, nach dem man schnappen kann, wenn es einen danach gelüstet.

Wir haben uns in der Museumsufernacht am Main verloren, wo wir die Beine ins Wasser hielten, Wein schlürften und dabei Profundes verkündeten. Am Niddastrand haben wir die Füße im Sand vergraben und mit geringem Tiefgang dem Sonnenuntergang zugesehen. Und auf dem Bad Homburger Laternenfest haben wir brasilianische Fleischspieße geknabbert, Sambatänzerinnen zugesehen und in lauschigen Innenhöfen an Cocktails genippt.
Am Donnerstag steht die Frankfurter Bahnhofsviertelnacht auf dem Programm, Mischung aus ein bisschen Rotlicht, Kunst, Kultur und Soziales. – Und dann rennen wir natürlich noch den jungen Hunden hinterher!

Back to the future

Caos en el salón

Ja, nun normalisiert sich das Leben auf sehr überraschende und unvorhersehbare Weise doch wieder. Die Phase des Vor-sich-her-Schiebens aus Gründen verkopfter Übermüdung hat endlich ein Ende gefunden, ich strotze geradezu vor Tatendrang, habe die Fensterscheiben geputzt – ein blankes Wunder! – und ich räume die veralteten Ausgaben meines Zeitschriftenabonnements, die ich ohnehin nicht mehr lesen werde, in die Papiermülltonne.

Grund für diesen Windrichtungswechsel ist, wie könnte es anders sein, der Auftritt einer Zauberfee. Frau A. – Achtung, Obacht und Vorsicht! Nicht verwandt oder verschwägert mit unserer Frau A., nicht dass es nachher heißt: Romanze zwischen Bloggern! – hat mir in den Hintern und die Lethargie aus den Knochen getreten, die Fenster geöffnet und eben frischen Wind in mein Leben gepustet.

~

La moscaUnd zu allem Überfluss soll nun auch noch der bislang hier nicht wahrnehmbare Hochsommer auf ein paar Tage zurückkehren? Vielleicht mausert sich das Jahr 2016 ja doch noch? Wir werden sehen, meine Fliegenpatsche und ich …

(Was ich sagen wollte: I’m back to the future! ;-)

Nicht vernehmungsfähig

Man muss sich ja erst wieder einfinden nach so einer radikalen Schreibpause von einem Monat. Schließlich weiß man gar nicht, an welcher Stelle man anknüpfen soll, so viel ist überall passiert. Portugiesischer EM-Sieg, ganz ohne Terrorschlag während des Turniers, den ich insgeheim befürchtet hatte. Politisches Chaos in GB. Und dann doch noch erschütternde Gewalt in Nizza und gerade auch in München. Da könnte man natürlich ein Thema finden, wenn nicht all diese Ereignisse mich sozusagen abgepolstert in einer Watteschicht erreicht hätten.
Weil es doch noch zu häufig vorkommt, dass mir in bestimmten Situationen Begebenheiten durch den Kopf wandern, die ich mit meiner so plötzlich verstorbenen Mutter in Verbindung bringe. Auch wenn diese Jahre oder Jahrzehnte zurück liegen. Dann bin ich oft für Stunden nicht für Aktuelles ansprechbar, und das merken meine Gesprächspartner natürlich.

Ich bin froh, dass mich mein Arbeitgeber in den letzten Wochen weitgehend aus der Pflicht entlassen hat. Also beurlaubt, meine ich. Dafür darf ich jetzt bis Ende August alles Liegengebliebene langsam aufarbeiten.
Ich habe mir einen Plan gemacht, der zwischen Montag und Freitag um neun beginnt und um zwei am Nachmittag endet. In diesen fünf Stunden täglich will ich versuchen, genug Konzentration aufzubringen, um mich den Geschäften zu widmen. Im Anschluss verlangt dann auch der Haushalt gewisse Aufmerksamkeiten, weil Tochter 3.0 mit ihren siebzehn Jahren nicht allzu stringent den Notwendigkeiten nachkommen konnte. Die Ärmste, sie scheint froh zu sein, dass ich das Regiment wieder übernehme.

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Im Radio habe ich eben gehört, dass die Eltern des Münchener Amokläufers ihren Sohn noch am gleichen Abend auf Bildern erkannt und bei der Polizei angerufen hatten. Derzeit sind sie „nicht vernehmungsfähig“.
Ich versuche, mir das vorzustellen. Gegen das, was dieses Paar gerade durchmacht, sind meine Befindlichkeiten geradezu ein lächerlicher Klacks. Ein Taubenschiss auf der Anzugschulter: ärgerlich gewiss, aber doch vollkommen unerheblich.
Gerade wäre ich geneigt, die beiden Unglücklichsten aller Unglücklichen zu umarmen und zu versuchen, ihnen Trost zu spenden. Was natürlich völliger Quatsch ist, mir aber trotzdem nicht aus dem Kopf geht.
Die zwei müssen in etwa in meinem Alter sein. Ich erinnere mich an den grausigen Schrecken, der mir durch die Glieder schoss, als mein Bruder mich anrief und nichts anderes sagen konnte als: „Die Mutter liegt im Sterben.“ – Jetzt multipliziere ich diesen Schock mit zehn oder zwanzig und bekomme eine Vorstellung des Zustandes der beiden Amok-Eltern.

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Entschuldigen Sie bitte meinen Befindlichkeitsreport. Vielleicht müssen Sie sich in den kommenden Wochen noch mit derlei Unpässlichkeiten meinerseits abfinden. Oder kommen Sie einfach später wieder.