Muss ja weitergehen …

Rita 1985

Übrigens kam es noch schlimmer. Eine ganze Ecke schlimmer sogar. – Nachdem mich Rita auf dem Campingplatz weggeschickt hatte, fuhr ich ohne Plan einfach los. Ich wusste nicht einmal, in welche Himmelsrichtung die Straße unter meinem Hintern führte. Nur eines war mir klar: Um nichts in der Welt wollte ich zurück nach München.

An diesem Abend landete ich an der Mittelmeerküste, irgendwo im Languedoc, wo plötzlich alles langsamer war und das Meer ruhiger. Vielleicht lag es aber auch an mir, dass das Leben mit einem Mal wie in Zeitlupe an mir vorüber zog, während die vergangenen vierundzwanzig Stunden in ständiger Wiederholung durch meine Gedanken purzelten: Die Strandpromenade in Biarritz, die französischen Mädchen … die Auseinandersetzung am Strand … Rita, die mich im Morgengrauen verabschiedete.
Ich blieb im Languedoc kleben, weiß nicht mehr, wie lange; versuchte zu ergründen, wohin mit mir. Schließlich lernte ich eine Gruppe von Holländern kennen, denen ich mich anschloss, weil ich begann, mir selbst auf die Nerven zu gehen: Diese verdammte Dauerschleife in meinem Gehirn! Hätte ich nicht bleiben und mich den Konsequenzen meiner Fehler stellen müssen?
Doch dafür war es zu spät. Also ließ ich mich von den spaßigen Holländern anästhesieren und ging mit ihnen auf Fahrt entlang der Côte d’Azur nach Italien und von dort in Schlangenlinien durch die Toskana, über die Alpen nach Bayern. Diese ziellose Zeit auf Achse, die ich in einer Art Trance durchlebte, hat nichts mit meiner Geschichte über die Valley-Riders zu tun; ich spare sie mir deshalb auf, vielleicht für ein andermal.
Fakt ist, dass ich erst drei Monate nach unserem Aufbruch an den Atlantik zuletzt wieder in München eintrudelte und mich auch dann für einen weiteren Monat mit Merle, einer der Holländerinnen, in meiner Bude in Laim vergrub.

~

Am Freitag nach dem Startschuss für die Oktoberwies’n hielt ich es nicht mehr aus. Schon seit Tagen war ich ich immer wieder vor dem Valley vorbeigetuckert, und nie war auch nur eine der Harleys auf dem Bürgersteig vor dem Lokal gestanden. Trotzdem hielt ich diesmal an, stellte die Yamaha ab und betrat das Valley.

Hinter dem Tresen stand Rita. Wie immer. So als habe der Vorfall auf dem französischen Campingplatz im Juni vor ein paar Monaten nie stattgefunden. Sie sah mich lange an, bevor sie fast unmerklich mit dem Kopf zur Begrüßung nickte.
Mit langsamen Schritten ging ich auf den Tresen zu und sah mich dabei um. Ich erkannte den Laden nicht wieder, der Gastraum im Valley hatte sich drastisch verändert. Die Wände waren frisch gestrichen, an Stelle der rohen Holztische und -stühle stand neues Mobiliar herum, mit – hoppla! – Stoffdecken auf den Tischen und gepolsterten Stühlen. Auch der Hangman in der Ecke zu den Toiletten war verschwunden. Und an den Tischen hingen nicht etwa Händi und der Rest der Bande herum. Zwei Familien mit jungen Kindern und ein älteres Paar saßen vor ihren Tellern und starrten mich verwundert an. So einen wie mich hatten sie offenbar hier nicht erwartet.
Außer Rita kannte ich nur eine weitere Person im Raum: Claudia, die Freundin von Mikey, stand reglos mitten im Raum, ein Tablett mit leeren Gläsern in den Händen. Auch ihr Blick ruhte unverwandt auf mir. Alle Gespräche waren verstummt, und plötzlich erschien in der Durchreiche zur Küche der runde Kopf eines schwarzhaarigen Mannes mit Bartstoppeln im Gesicht, der mich mit misstrauischem Blick beäugte. Erst als ich mich auf einen der neuen Barhocker an den Tresen gesetzt hatte, wandten sich die Gäste wieder ihren Tellern zu und nahmen ihre Unterhaltungen auf. Auch der Männerkopf in der Durchreiche verschwand genauso still, wie er dort aufgetaucht war.

Claudia stellte ihr Tablett neben mir auf dem Tresen ab und musterte mich mit gerunzelter Stirn. „Schau an, der verlorene Sohn“, gab sie kund und verzog sich durch die Schwingtüre in die Küche, ohne eine Erwiderung abzuwarten.
Ich wandte mich Rita zu, die ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen eine Halbe Bier auf einen Pappfilz vor mich stellte. Sie sah älter aus als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr schwarzes Haar durchzogen einzelne Silberfäden, und in ihrem Gesicht erkannte ich unübersehbare Fältchen. Ritas schwarz geschminkte Augen blitzten nicht mehr so unternehmungslustig wie früher. Ihr Blick wirkte müde. Vorsichtshalber rechnete ich nochmals nach: Ja, Rita konnte nicht älter als neununddreißig sein, sah aber aus wie Ende vierzig.
„Ich weiß, ich bin alt geworden, Brösel“, sagte sie leise, während sie sich einen Schnaps einschenkte. Sie ließ das Glas des Stamperls gegen mein Bierglas klicken: „Auf die Vergangenheit.“

Als die Gäste gegangen waren und auch Claudia sowie Costa, der griechische Koch, zu dem der Kopf aus der Durchreiche gehörte, sich einsilbig verabschiedet hatten, standen vor mir drei geleerte Biergläser, fünf Schapsgläschen vor Rita. Die nächste Runde war in der Mache, Rita zündete sich eine Zigarette an, und endlich erfuhr ich, was am Atlantik geschehen war, nachdem ich mich abgesetzt hatte. Rita erzählte mit leiser Stimme, aber ohne zu stocken oder auf Einwürfe von mir zu warten.

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Nach der Bestandsaufnahme am nächsten Vormittag – neben Rollo und mir war über Nacht auch der Geier ohne Abschied verschwunden, Händis Stichverletzung am Arm sah bei Tageslicht nur noch halb so wild aus, die beiden Mädchen Trixie und Claudia schliefen noch immer ihre Räusche aus – gerieten Mikey und Beats ohne ersichtlichen Grund aneinander.
Wahrscheinlich kamen die beiden nicht mehr mit den über Jahre bestehenden Loyalitäten zurecht, seitdem auch sie die wahren Hintergründe des nächtlichen Streits kapiert hatten. – War Händi, ihr unumstrittener Boss, auf einmal ein Weichei, der seiner Frau erlaubte, mit einem Jungspund zu vögeln? Oder hatte er das gar nicht mitgekriegt und war schon deshalb ein alter Depp? Und dieser Jungspund? Der Brösel, ihr kleiner Freund, ihr Maskottchen? Das konnte doch gar nicht sein! Und Rita erst, die Mutter der Nation? Die immer alles und jeden im Griff gehabt hatte?

Die beiden reagierten mit kopfloser Verunsicherung wie zwei kleine Jungs, die sich gegenseitig die Schuld gaben an unbegreiflichen Dingen in ihrem Umfeld, auch wenn diese in Wirklichkeit nicht das Geringste mit ihnen zu tun hatten. Beats und Mikey fingen an, sich gegenseitig lauthals zu beschimpfen, zu schubsen, und zettelten schließlich eine Schlägerei an, in die auch ein paar der Zeltnachbarn verwickelt wurden, als sie den Streit schlichten wollten. Als die hinzu gerufene Polizei auftauchte, solidarisierten sich die beiden Biker plötzlich, endlich wieder ein klares Feindbild vor Augen. Mit kalter Wut im Bauch massakrierten sie einen Gendarm nach dem anderen und konnten erst gestoppt werden, als ein ganzer Mannschaftswagen aus Biarritz zur Verstärkung der Dorfpolizei dazu kam.
Jetzt saßen Mikey und Beats im französischen Knast und warteten auf ihre Verhandlung.

„Natürlich haben wir den beiden Jungs sofort Anwälte besorgt“, berichtete Rita emotionslos, während sie sich an Glas und Zigarette festhielt. „Aber die machen uns wenig Hoffnung. Schwere Körperverletzung in fünfzehn Fällen, drei davon mit bleibenden Schäden, ein versuchter Totschlag, bandenmäßiger Widerstand gegen die Staatsgewalt, Einsatz von verbotenen Schlag- und Stichwaffen … Die zwei werden für mindestens zehn Jahre einsitzen.“
Mir wurde schlecht beim Gedanken an die beiden Freunde, und ich kippte das nächste Bier in einem Zug hinunter, um das Zittern meiner Hände in Griff zu bekommen.

Die Heimfahrt von Händi und den drei Frauen im Van war eine Tortur gewesen. Immer wieder war es aus nichtigen Gründen zu verzweifelten Streitereien gekommen, und als sie endlich zurück in München waren, wartete schon der nächste Donnerschlag auf sie.
Der Bruder von Rollo tauchte im Valley auf und informierte die vier Heimkehrer, dass Trixies Freund während der Rückfahrt auf seiner Mühle mit hoher Geschwindigkeit und zwei Promill im Blut von der Autobahn abgekommen und tödlich verunglückt war.
Trixie bekam diese Nachricht nicht auf die Reihe. Sie gab sich selbst allein die Schuld am Tod von Rollo und versuchte, sich mit Schlaftabletten umzubringen. Im Moment wurde sie in der Psychiatrie des Bezirkskrankenhauses Haar behandelt, erkannte aber seit dem Vorfall keinen ihrer Freunde wieder.
Was aus Geier geworden war, wusste niemand zu sagen. Er wurde nicht mehr gesehen.

„Wo ist Händi?“, fragte ich mit zitternder Stimme. Angst kroch mir aus dem Bauch hinauf in die Brust und schnürte mir den Hals zu.

„Ach, Brösel …“ Jetzt liefen Rita Tränen über die Wangen. Sie setzte die Obstlerflasche ohne den Umweg über das Glas an die Lippen, bevor sie weitersprach.
„Händi hat das alles nicht verwunden. Dass er die Kontrolle so vollständig verloren hat; erst über mich, dann über seine drei Jungs. Dass sie jetzt tot oder im Knast sind.“

„Wo ist er, Rita!?“ – Ich musste wissen, wo Händi steckte. Andererseits stellten sich mir die Nackenhaare auf, wenn ich daran dachte, dass mir die Frau noch nicht alles erzählt hatte.
„Es hat ihn schwer getroffen, dass Du am nächsten Tag verschwunden warst, Brösel.“ Rita heulte jetzt wie ein Schlosshund. „Es war ein Riesenfehler, dass ich Dich weggeschickt habe. Aber was sollte ich denn machen? Wärst Du geblieben, würdest Du jetzt wahrscheinlich zusammen mit Beats und Mikey einsitzen. Oder die beiden hätten Dich vorher erschlagen, wer weiß es denn? Ich musste Dich da raushalten. Unter allen Umständen.“
Jetzt lagen Rita und ich uns in den Armen und vergossen gemeinsam bittere Tränen wegen all der Fehler, die wir in der Vergangenheit begangen hatten. Wir krallten uns aneinander, um wenigstens den allerletzten Halt zu finden, der sich noch bot.

„Er hat sich totgesoffen, Brösel. Gerade mal drei Wochen hat er durchgehalten, nachdem wir wieder hier waren. Händi hat sich systematisch vergiftet. Koma, Kreislaufversagen. Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag …“

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Ich heulte mir die Seele aus dem Leib. Während mein Freund Händi den Löffel abgab, war ich mit dieser Merle und ihren Freunden durch die Gegend gezogen und tat alles, um mich zu vergnügen, um zu vergessen, warum ich nicht mehr mit meinen Freunden am Strand lag und blöde Witze riss, über die wir uns kaputt lachen hätten können. So wie es all die Jahre zuvor gewesen war.

„Bleib bei mir heut Nacht, Brösel“, schniefte Rita mit abgrundtiefer Verzweiflung im Blick.

~

Am nächsten Morgen schickte mich Rita zum zweiten Mal weg. Diesmal für immer.
„Ich ertrag es nicht, Brösel. Ich ertrag es nicht, wenn Du hier herumläufst, wenn Du neben mir liegst, wenn ich Dich spüre. So lebendig und trotzdem so einsam, so weit weg. Eigentlich trinke ich nicht mehr seit Händis Tod. Keinen Tropfen, außer gestern Abend. Aber wenn ich ständig durch Dich an alles erinnert werde, was ich vergeigt habe, dann werd auch ich das nicht überleben.“

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Muss ja weitergehen: Ich habe Rita erst dreißig Jahre danach wiedergesehen, ein halbes Erwachsenenleben später, zu ihrem siebzigsten Geburtstag. Sie hatte zusammen mit Claudia die Kneipe noch zehn, zwölf Jahre weitergeführt. Dann hatten sie das Valley abgegeben.
Claudia war mit ihren Ersparnissen nach Frankreich gegangen, um dort die Entlassung Mikeys abzuwarten. Doch was aus den beiden und Beats geworden war, wusste Rita nicht, wollte es auch nicht wissen. Sie selbst hatte einen Verein zur Versorgung von Prostitutionsaussteigerinnen gegründet, in dem sie auch jetzt noch als Geschäftsführerin arbeitet.

Als alles gesagt war, was es zwischen uns zu sagen gab zu diesem späten Wiedersehen der Überlebenden in den ersten Januartagen 2016, zog sich Rita einen Mantel über, verstaute zwei Bierflaschen in den Taschen und hakte sich bei mir unter. Schweigend spazierten wir die kurze Strecke von ihrer Wohnung hinüber zum Waldfriedhof, um Händi an seinem allerletzten Bett einen Besuch abzustatten. Die Vögel zwitscherten. Im Januar.

Händi 1985

Laimer Brösel

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[lightgrey_box]Für alle, die neugierig auf die Gestalten aus den Laimer Bröseln sind, gibt es eine kleine Galerie mit Portraitzeichnungen von Rita und den Jungs aus dem Valley.[/lightgrey_box]

Das Textduell

TextduellEiskübelherausforderung war gestern. Heute nominiert der Wortmischer zwei Texter, die über das gleiche, vorgegebene Szenario aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln schreiben sollen. Diese Idee entstand in den Tiefen der Kommentare im Teestübchen Trithemius und wird nun folgendermaßen umgesetzt:

A) Das Szenario

Chemnitz, April 2016, früher Samstagabend, kurz vor sieben. Pascal (ca. 35, 172cm) betritt die Galerie Zirngiebel, nachdem er an der Tür seine persönliche Einladung zur Vernissage der ihm unbekannten, aber in der Presse als großes Talent angekündigten Künstlerin Moina Hillimer vorgezeigt hat. Im Eingangsbereich der großzügig angelegten Galerieräume stehen Tische mit reichlich Schnittchen und Sekt, im hinteren Bereich hängen großformatige Bilder. Es sind mehrere Personen anwesend, eine von ihnen ist mit Sicherheit Moina Hillimer. Die Galerie ist jedoch alles andere als überfüllt. Vor einem der Werke steht betrachtend Elli (ca. 40, 188cm).

Moderne Kunst

Schließlich bleibt Pascal hinter Elli stehen, die nach einer Weile seine Gegenwart spürt und sich zu ihm umdreht. Sie kennen einander nicht, keiner der beiden beginnt ein Gespräch mit dem anderen. Kurz nach zwanzig Uhr verlässt Pascal die Vernissage.

B) Die Regeln

  1. Einer der Texter übernimmt die Rolle von Pascal, der/die andere die von Elli.
  2. Beide Texter müssen sich an alle Details des vorgegebenen Szenarios halten.
  3. Keiner der Texter schreibt über seine eigene äußere Erscheinung (Kleidung, Figur, Frisur, …), das bleibt dem jeweils anderen vorbehalten, falls dieser sich überhaupt dafür entscheidet. Von dieser einen Einschränkung abgesehen darf man natürlich alles mögliche über sich selbst schreiben.
  4. Keiner der Texter ist beleidigt, falls ihn der andere womöglich unvorteilhaft in Szene setzt.
  5. Absprachen zwischen den Textern vor Veröffentlichung der beiden Geschichten gelten als unlauter und werden mit lebenslänglichem Karmaverlust bestraft. Die beiden Texte müssen unabhängig voneinander entstehen.
  6. Abgabetermin für die beiden Texte ist Montag, 11. April 2016, Punkt 14Uhr. Um diese Uhrzeit werden beide Texte hier verlinkt, und alle dürfen sie lesen, darüber lachen und diskutieren.

Wir werden sehen, ob dieser erste Versuch eines Textduells funktioniert, oder ob die Texter zum Beispiel völlig aneinander vorbeischreiben. Das Textduell ist ein Spiel, und wir wollen Spaß miteinander haben. – Ich bin gespannt!

C) Nominierung

Hiermit nominiere ich wie angekündigt Mitzi Irsaj für die Rolle der Elli und den Herrn Trithemius für die Geschichte aus Sicht von Pascal. (Ich bitte um zwei kurze Wortmeldungen, wenn ihr die Punkte A, B und C annehmt.)

Update, 11. April 2016, 14Uhr:

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Falls einer der Nominierten Lust verspürt, das Textduell-Logo zur Kennzeichnung seiner Geschichte zu verwenden, oder womöglich Blognachbarn einen Grafiklink auf das Textduell setzen möchten, dann mögen sie sich bitte bedienen:

200×200250×250275×275330×330

#Älterwerden

Nicht das Alter ist das Problem,
sondern unsere Einstellung dazu.

Marcus Tullius Cicero

Älterwerden

Warum nur haben so viele Menschen ein Problem mit ihrem Alter oder dem Altern? Gar nicht so wenige verschweigen gegenüber Mitmenschen oder Arbeitgebern ihr Alter, oder machen sich jünger als sie sind. (Älter als es in ihren Pässen steht, lügen sich wohl nur Teenager.)
Das verstehe ich nicht. Mit einem Arbeitgeber, der mich wegen meines Alters nicht einstellt, will ich ohnehin nichts zu tun haben; das würde nämlich sicher nicht lustig. Und mit einer Frau etwas anzufangen, die sich nicht für mich interessiert, weil ich ihr zu alt bin, und ihr deshalb ein paar Jahre zu unterschlagen, wäre wohl maximal bescheuert.

Noch zu keinem meiner runden Geburtstage mit Nullen hinten dran habe ich mit Bedauern in die Vergangenheit geblickt, oder mir gar gewünscht, eine oder zwei Dekaden wiederholen zu können. Warum denn auch? Es war – und ist – immer okay, so wie es eben gerade war. Ich fühle mich wohl in meiner (alten) Haut, weil ich nie den Gedanken hatte, in jüngeren Jahren etwas versäumt zu haben.

Mein nächstes Leben möchte ich rückwärts leben. Man fängt an, indem man stirbt. Das Schlimmste hat man dann schon mal hinter sich. Plötzlich wacht man in einem Altersheim auf und fühlt sich von Tag zu Tag besser.
Irgendwann wird man rausgeschmissen, weil man einfach zu gesund ist. Man fängt an, die Rente zu sparen, und eines Tages geht man zu seinem ersten Arbeitstag. Dieser beginnt gleich mit einer riesen Party und einer goldenen Uhr, die man geschenkt bekommt. Nun arbeitet man die nächsten 40 Jahre, bis man jung genug ist, um den Ruhestand zu genießen. Man feiert, trinkt Alkohol und wechselt ständig die Partner. Dann ist man bereit für das Gymnasium. Und schließlich für die Grundschule. Man wird zu einem Kind. Zu einem spielenden Kind. Man hat keinerlei Verantwortung.
Irgendwann ist man ein Säugling und wird schließlich geboren. Die letzten 9 Monate des Lebens verbringt man schwimmend in einem luxuriösen, perfekt klimatisierten und von Tag zu Tag größer werdenden Wellness-Apartment, mit einem hervorragenden Zimmerservice. Dann ist es plötzlich soweit: Man beendet das Leben als Orgasmus!
Woody Allen

~

Mein Alter ist das einzige persönliche Datum, das hier jeder Fritz, der sich dafür interessiert, tagesaktuell nachlesen darf. Ich bin weder stolz auf mein Alter, noch ist es mir peinlich. Aber solange mein Hausarzt sagt, ich hätte die rüstige Konstitution eines Fünfunddreißigjährigen, solange es nirgendwo zwickt und zwackt, solange ich beim Sport mit meinem Sohn mithalten kann und solange ich keine Sehhilfe brauche – solange gibt es nun wirklich überhaupt keinen Grund, mir Sorgen zu machen.
Es gibt noch viel zu erleben, packen wir es an! Und im Gegensatz zu Woody Allen wissen wir nicht, wie viele Tage das Leben für uns noch vorgesehen hat.

Fünfzig ist das neue Dreißig? – „Best-Agers“ statt „Silberrücken“?

Mag schon sein. Aber natürlich ist mir bewusst, dass das nicht ewig so bleiben wird. Früher oder später werden auch mein Haar grau und meine Muskeln wabbelig werden, unausweichlich wird auch bei mir irgendwann etwas nicht mehr so funktionieren, wie ich es noch immer gewohnt bin.
Ob ich dann gelassen darauf reagieren werde, weiß ich noch nicht. Ich hoffe allerdings, dass ich mit einem Augenzwinkern darüber hinwegsehen kann; und dass die Fehlfunktionen nicht so arg und nicht so schmerzhaft sein werden, dass sie mich den Tod herbeiwünschen lassen werden.

Die genetische Veranlagungslehre macht mir weis, dass ich ziemlich alt werden könnte. Meine Urgroßeltern starben über hundertjährig, meine Großeltern in ihren Neunzigern, und meine Eltern sind heute Mittachtziger, die noch völlig selbständig leben. Statistisch gesehen werde ich viele meiner Altersgenossen überleben. Und wenn es doch nicht so kommt, dann bin zumindest nicht ich es, der ein Problem hat.

Wenn jedoch dereinst tatsächlich immer weniger Freunde um mich herum übrig bleiben und mir irgendwann die Gesprächspartner ausgehen werden, dann verlasse ich mich darauf, dass ich auch mit mir alleine zurecht kommen kann.
Ich stelle mir das gerne so vor: ein Ohrensessel in einem ausreichend beheizten Raum, womöglich mit Kaminfeuer; eine Staffelei und ein Skizzenblock, an denen ich male und zeichne, wenn mir danach ist; und ein Laptop auf dem Tisch, an dem ich auch in dreißig oder vierzig Jahren noch Texte für die Wortmischerei schreibe. Oder vielleicht doch irgendwann eine Geschichte veröffentliche?

~

Ein schöner, geradezu anheimelnder Zukunftstraum ist das, und ich ziehe ihn auf jeden Fall der Vorstellung vor, ich würde einst gichtig und dement im Bett liegen, mich ab und an vom Pflegedienst wenden lassen und darauf warten zu müssen, dass irgendjemand endlich das Licht abschaltet. Ich mag keine gruseligen Visionen meines eigenen Endes. Deshalb halte ich mich an den Ohrensessel und an das Kaminfeuer.

Übrigens: Trotz meiner so überhaupt nicht rheinischen Wurzeln bin ich ein überzeugter Anhänger der sympathischen elf Artikel des Rheinischen Grundgesetzes. Kurz gefasst …

Et kütt wie et kütt,
un‘ et hätt noch emmer joot jejange.

Rüstiger Rentner gesucht

[dark_box]Frau Quadratmeter hat einen leichtherzigen und sehr angenehm zu lesenden Text über die Unsinnigkeit der Haderns, also über das Hadern mit dem Älterwerden geschrieben und auch gleich noch eine Blogaktion unter dem Stichwort #älterwerden angekündigt, in der sie Texte verlinken möchte, die sich (ernsthaft?) mit dem Altern beschäftigen. – Und das hier waren meine zwei Cent dazu.[/dark_box]

Lieblinks (14)

Jardines colgantes de Semíramis

Ich hänge gerade in den babylonischen Gärten von Semiramis herum. Sehen Sie sich doch derweil bei ein paar Nachbarn um, die ich für Sie herausgesucht habe.

Frau Nessy hält sich gern in den Räumlichkeiten einer Kunstgalerie der besonderen Art mit internationalem Renommee auf, wo sich (beachten Sie dazu insbesondere die Kommentare des Artikels) die Konstanten der Kunstwelt die Klinke in die Hand geben, um ihren Œvres Rahmen und Geltung zu verleihen. Sie stellt uns ein Opus vor, das „vordergründig den rein dinglich konnotierten Gegensatz zwischen der vergnüglichen Nährung des Leibes und der Trostlosigkeit des räumlichen Hygieneumfelds“ behandelt. – Sind Sie Kunstmäzen(in)? Dann sollten Sie jetzt handeln.

#moreWomen

Im Rahmen der #moreWomen-Kampagne der britischen ELLE entstand eine Fotoserie mit Aufnahmen aus der politischen Szene, aus denen alle männlichen Anwesenden herausretuschiert wurden. Seht Euch an, wie viele Frauen übrig bleiben. (Ein bisschen gruselig wirken die Aufnahmen durchaus.)

Wir bleiben in der Politik. Frau Modeste hat endlich den Wähler der AfD ausfindig gemacht. Er heißt Heinz und „will […] nicht genauso, sondern besser behandelt werden als diejenigen, die in seinen Augen weniger wert sind als er“. Lesen Sie das. Es ist eine der treffendsten und bissigsten Typanalysen am rechten politischen Rand, die mir bislang untergekommen sind. Seither kann ich auch über die AfD wieder lachen.

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Meine Lieblinks (13)

Freitagstexter: Pokalverleihung

Freitagstexter-Pokal

Kaum zu glauben: 28 Kommentare. 28 Textvorschläge zu meinem karfreitaglichen Aufruf zur Bildbeschriftung. Scheinbar ist es tatsächlich so, dass Nudeln immer gehen. Sogar am Osterwochenende. Ihr seid einfach toll, Ihr Hasen! (Bei einigen von Euch muss ich mich entschuldigen. Meine Spamzwerge sind gerade schwer genervt von einer Tsunamiwoge unerwünschter Werbekommentare und haben – sicher versehentlich – einige von Euch auch gleich mal aussortiert. Das tut mir sehr leid, und ich habe Euch auch alle einzeln wieder aus dem Orkus für chinesische und russische Dummschwätzer herausgefischt.)

Aber kommen wir doch zu den wichtigen Dingen des Lebens, nämlich zu den Preisen. Diese Woche muss ich unbedingt ein paar Sonderpokale verleihen. Geht nicht anders. Weil so viele bemerkenswerte Vorschläge gemacht wurden, die leider nicht alle nebeneinander aufs Siegerpodest passen.

In alphabetischer Reihenfolge wären hier zu nennen: Das Bee, das geehrt wird mit dem elektrischen Maschendrahtzaun, Modell Ost-West, für seine Vermutung zu gestörten Essgewohnheiten in Thüringen. – Dauergastblogger Hubbie erhält für sein Pokalregal auf den Kanaren die Große Zahnkrone in Keramik dank seiner Erkenntnisse zu den Zusammenhängen zwischen Nudeln al dente und dritten Zähnen. – Frau Jaelle Katz sackt das Alte Testament in Silber ein für ihren anbetungswürdigen Vorschlag in Glaubensfragen rund um das Spaghettimonster. – Herr Kulturflaneur stellt jahreszeitliche Zusammenhänge her mit einem „essbaren Osternest“ und wird dafür mit den Hasenlöffeln in Platin bedacht. – Unser Küchenblogger Lamiacucina bekommt drei von doppeltem Szenenapplaus begleitete Michelinsterne für den ultimativen Tipp an alle kochenden Gastgeber: „Schnell noch abschmecken, bevor die Gäste kommen“. – Frau Luise erhält den Marienbad-My-Love-Preis* für den längsten mir bekannten Freitagstext, ihre Kurzgeschichte von der gierigen Hexe. – Der Amtskollege Nömix nimmt den Evelyn-Hamann-Gedächtnispreis mit nach Hause für „Hildegard, warum sagen Sie denn nichts“. – Alpenblogger Ösi wird bedacht mit dem goldenen ADAC- ÖAMTC-Autotesterpokal wegen seines klassenbewussten Hinweises auf das „völlig veränderte Raumgefühl in der neuen Ess-Klasse“. – Frau Rosenherz bekommt den Preis für Philosophie & Verdauung dank ihrer existentialistischen Sinnfrage: „Nudeln gehen immer. Bloß wohin?“ – Herr Shhhhh hat sich den Erfinderpreis der Deutschen Einrichtungsindustrie redlich verdient mit seinem essbaren Hochflor-Teppich. – Blognachbar Smamap erhält den Stanley-Kubrick-Horrorgedächtnispreis für die Schockervorstellung von der einen einzigen langen Nudel. – Last but not least wird der Vielfraß geehrt mit Kains biblischer Gabel in Bronze für seinen radikalen Vorschlag von der „Kommunion bei den Pastafari“.

Damit kommen wir zu den drei Plätzen auf dem Siegerpodest. Die Bronzemedaille hänge ich hiermit Frau Poppkörnchen um den Hals für ihre akribischen Recherchen zum kohlehydratigen Erfolgsgeheimnis ewiger Jugend, bei denen sie auf die 93-jährige Marathonläuferin Harriette Thompson gestoßen ist.
Frau La-Mamma geht als Zweite durchs Ziel, nachdem sie dank ihrer telepathischen Superkräfte die heimlichen Gedanken der Nudeltante auf dem Foto aus deren Gehirn ausgelesen und an uns weitergegeben hat: „Chiara rechnet morgen doch eher mit Schlechtwetter.“

Ganz oben auf dem Treppchen aber steht …

Aber noch viel mehr freute sich Gisela auf die Schubkarre Tiramisu.

„Aber noch viel mehr freute sich Gisela auf die Schubkarre Tiramisu.“

Frau Spätlese, die als einzige die Karre mit der Nachspeise entdeckt hat, die links außerhalb des Bildes zur Kühlung hinter der Terrassentüre auf uns wartet. Mit Mühe kämpften die Jurymitglieder den Brechreiz hinunter und einigten sich einstimmig auf die Fortsetzung des Wettbewerbs übermorgen beim …

Zum nächsten Freitagstexter!