Lebenslang

Melancolico (Pixabay 53899)

Joaquín saß an seinem Stammplatz während der Sommermonate, wo die Meeresbrise Kühlung und die Touristenströme bare Münzen brachten. Er sah hinaus auf das Hafenbecken, in dem ein riesiger Kreuzfahrtpott vor Anker lag, und versuchte sich vorzustellen, was das für Menschen waren in den unzähligen Schiffskabinen, die sich in kleinen Rechtecken auf dem Rumpf abzeichneten. Woher kamen diese Menschen? Und was trieb sie auf diese Riesendampfer? – Wahrscheinlich hatte heute schon der eine oder andere dieser Kreuzfahrer ein paar Münzen in den weißen Plastikbecher geworfen, der vor Joaquín auf dem Pflaster stand, aber für den Alten waren das Wesen von einem anderen Stern.

Eigentlich war Joaquín kein Bettler. Zwar war er alles andere als begütert, seine bescheidene Pension reichte gerade so für die Miete einer winzigen, dunklen Wohnung in der Altstadt und für das bisschen Essen, das ein alter Mann wie er brauchte. Aber betteln hätte er nicht müssen.
Und tatsächlich betrachtete sich Joaquín selbst gar nicht als Bettler. Das hatte sich einfach so ergeben, als er vor zwei Jahren, wie an jedem anderen Tag auch, auf den Steintreppen am alten Hafen saß, nur hundert Meter von der Kolumbussäule entfernt, wo täglich Tausende von Touristen vorüberliefen. Und weil Joaquín dort bewegungslos auf der Treppenstufe saß in dem alten, abgetragenen, ausgebeulten schwarzen Anzug – seinem einzigen präsentablen Kleidungsstück – und mit traurigem Blick in die Ferne starrte, hatte ihn eine Passantin für einen Obdachlosen gehalten und einige Münzen vor ihm abgelegt. Als er erstaunt in die mitleidsfeuchten Augen einer dicken, blonden Nordeuropäerin blickte, war ihm auf einmal klar geworden, was andere in ihm sahen: einen schwermütigen, womöglich kranken Alten, dem das Leben übel mitgespielt hatte und der nun auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen war.

Weil das so unglaublich einfach, wirklich ohne jede Einflussnahme seinerseits abgelaufen war, hatte Joaquín am nächsten Tag ein Plastikbecherchen aus einem Mülleimer gefischt und versuchsweise vor sich auf den Asphalt der Hafenpromenade gestellt, in dem sich von nun an Tag für Tag mal mehr und mal weniger Geld einfand.
Sicher gab es andere, die mehr einnahmen als er, indem sie den Touristen nachstellten und auf die Mitleidsdrüse drückten; wie etwa diesen verrückten Kolumbianer, der sich auf den Ramblas an Krücken dahinschleifte, dabei ein merkwürdig verdrehtes Bein nachzog und die Touristen auf fehlerhaftem Italienisch um Almosen anging.
Aber Joaquín und der Kolumbianer hatten sehr unterschiedliche Zielgruppen. Den lautstark jammernden, unangenehmen Behinderten wollten alle so schnell wie möglich loswerden. Dafür, dass er von ihnen abließe, bezahlten viele der Passanten. Joaquín hingegen lockte alleine mit der unendlichen Traurigkeit seines Blickes die Einfühlsamen an, die in ihm das gebrochene Opfer irgendeiner furchtbaren Tragödie sehen und sein Schicksal erleichtern wollten. Das war, so fand wenigstens Joaquín selbst, anständiger als die Masche des Kolumbianers, dessen weinerliches Italienisch zusammen mit dem Humpelbein in den Abendstunden verschwand – durch wundersame Heilung von Gebrechen und babylonischer Sprachverwirrung, sobald er seine Tageseinnahmen gezählt hatte.

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Am zehnten Geburtstag Joaquíns hatte die Staatspolizei bei ihnen zu Hause die Türe eingetreten und den Vater mitgenommen. Das war in den Jahren der gewaltsamen Säuberungen der Franco-Diktatur gewesen, zu einer Zeit, als im Rest Europas gerade Ruhe einkehrte und die Kriegstrümmer beseite geräumt wurden. Dem Vater warfen die Falangisten eine unzüchtige Beziehung zum jungen Pfarrer der Santa María del Pi vor. Beide Männer verschwanden auf Nimmerwiedersehen, und bald hieß es, sie hätten ihre Leben in den Kerkern des Montjuïc gelassen.
In dieser Nacht war Joaquín zum ersten Mal zum Hafen gelaufen und war bis an die Spitze des großen Wellenbrechers gegangen, um in die Dunkelheit des Meeres hinauszustarren und erste Bekanntschaft zu schließen mit der Erkenntnis, dass man das Leben nicht steuern konnte und dass es einem von hinten in die Kniekehlen trat, immer genau in dem Moment, in dem man glaubte, einen unverhofften Sonnenstrahl erspäht zu haben.

Da half kein Jammern, kein Wehklagen. Das erfuhr der kleine Quim erneut auf schmerzhafte Weise nur zwei Jahr nach der Entführung seines Vaters: Seine Mutter hatte das Verschwinden des Ehemannes in eine stetig vor sich hin wispernde Frömmlerin verwandelt, die zu gelegentlichen missionarischen Ausbrüchen neigte, im Laufe derer sie von den Wehrtürmchen der Santa María del Pi herab die Nachbarschaft lautstark zusammenstauchte. Am Morgen nach einer dieser Predigten wurde sie zum Fuße des Türmchens der Basilika gefunden, mit gebrochenem Genick.
Ob für den Tod der Mutter ebenfalls die Staatspolizei oder womöglich aufgebrachte Nachbarn verantwortlich waren, wurde nie geklärt. Ihr Ende führte zumindest dazu, dass der Waisenjunge Quim sich noch mehr verschloss und mehrere Tage und Nächte auf dem Wellenbrecher verbrachte.

Der Ironie des Schicksals war es zu verdanken, dass Joaquín nicht auf der Straße endete, wo er aus purem Mangel an Selbsterhaltungstrieb nicht lange überlebt hätte. Von dem Pfarrer, der gemeinsam mit seinem Vater verschwunden war, hatte der Junge eine grundlegende Schulausbildung erhalten, so dass er als einer der wenigen Jugendlichen im Viertel lesen, ein bisschen schreiben und rechnen konnte. Dank dieser Fähigkeiten bekam er eine Arbeitsstelle ausgerechnet im Kommissariat der gefürchteten Staatspolizei – zunächst als Lagerarbeiter und später als aufsehender Buchhalter im Gefängnistrakt des Montjuïc. Seine Vorgesetzten schätzten an Joaquín dessen unbestechliche Diskretion und Verschwiegenheit, die er noch nicht einmal brach, als er in alten Akten Berichte über Folterung und Tod seines eigenen Vaters und seines Lehrers fand.

In diesen Jahren war in Joaquín das unumstößliche Bewusstsein gereift, dass das Leben für ihn im Zweifel stets die unangenehmere Alternative bereit halten würde, wenn er an einem Scheideweg stünde. Er beschränkte sich darauf, sich von Montag bis Freitag in die Logbücher der Gefängnisverwaltung zu vertiefen und an den Wochenenden gedankenverloren aufs Meer hinaus zu starren.
An dieser Gewohnheit änderte auch die Straßenbekanntschaft einer jungen Dame aus der Nachbarschaft des Barrio Gótico nichts, der Joaquín über mehrere Monate hinweg mehrmals am Tag rein zufällig begegnete und die ihm jedes Mal aufmunternd zulächelte. Erst als der junge Mann auch nach einem halben Jahr keine Anstalt machte, die Dame wenigstens zu grüßen, endeten die zufälligen Treffen aus für Joaquín unerklärlichen Gründen. Doch im Grunde war er froh, sich dank der ausbleibenden Begegnungen wieder seiner Kontemplation des Unvermeidlichen widmen zu können.

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Nach fünfzig Jahren Tätigkeit in den Büros der Staatspolizei wurde Joaquín schließlich in die Rente entlassen, mit einer Belobigung durch seinen Chef und einer kanarischen Vargas-Robusto-Zigarre in der Brusttasche. In den Jahren danach hatte er zwei Dinge gelernt: Den Plastikbecher zu seinen Füßen rechtzeitig verschwinden zu lassen, wann immer ein Straßenpolizist in Sichtweite kam; und abends mit Sonnenuntergang seinen Platz zu räumen, um nicht Gefahr zu laufen, von den testosterongesteuerten Jungs verprügelt zu werden, die mit einbrechender Dunkelheit das Kommando in den Altstadtstraßen übernahmen.

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Hasta la vista, BCN

Nachts, wenn es sauber wird

Danke für alles, Barcelona, Du olle Zuppe. Es war wieder schön mit Dir, und ich hab Dich auch gleich wiedererkannt. Zum Beispiel am Riesen-Getöse, das nachts auf Deinen Straßen herrscht. Damit meine ich nicht Rasenmäher-Moppets oder Rumpel-Laster, sondern Deine Saubermänner von der neteja, die täglich ab Mitternacht die Mülltonnen vor der Haustüre leeren und einmal wöchentlich die Straßen abspritzen, um die ganze Hundekacke unter die parkenden Autos zu schubsen und den Nachtschwärmern ein paar frische Beine zu verpassen.

Apropos, es ist kaum zu glauben, wie viele Hundebesitzer es in einer derartig engen Stadt neuerdings gibt. Und was für Riesenkläffer das sind! Wie machen die Leute das? Lassen sie den Viechern die Luft raus, bevor sie ihre winzigen Wohnungen betreten? Ein Mysterium …

Und noch etwas habe ich entdeckt, was es früher nicht gab; also, überhaupt ganz und gar nicht gab: Fahrräder.
Ich erinnere mich an diesen einen Morgen im April 1990, an dem ich mit meinem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Die Fahrt habe ich nur mit Glück überlebt und dabei eine ganze Menge neuer Schimpfwörter gelernt, mit denen mich Autofahrer aus geöffneten Fenstern bedachten, während sie hupend und im Zentimeterabstand an mir vorbeirauschten. Nach dieser einzigartigen Fahrt stand das Rad jahrelang unberührt in der Firmengarage, bis es mir schließlich ein Kollege als Geschenk für seine Schwester abkaufte.

BiCiNg an der Plaza España

Heute gibt es gefühlt an jeder Ecke der Stadt diese BiCiNg-Stationen, an denen die Einwohner Fahrräder für Stadtfahrten ausleihen können. Die erste halbe Leihstunde ist kostenlos, danach zahlt man fünfzig Cent für dreißig Minuten. Und die Leute nutzen das Angebot tatsächlich! Außerdem gibt es auf vielen Straßen ausgewiesene Fahrradspuren, was einerseits zwar Erlernmöglichkeiten von Beschimpfungen einschränkt, andererseits jedoch die Überlebensrate für Radler steigen lässt. – Du wirst doch nicht etwa umweltfreundlich werden, olles Barcelona?

Ja, Du bist internationaler geworden, Barcelona. Ausländer, die kein Wort Spanisch sprachen, waren früher häufig aufgeschmissen. Es war oft schwierig, jemanden anzutreffen, der einem zum Beispiel auf Englisch weiterhelfen konnte. Das hat sich drastisch geändert. Inzwischen formulieren ja sogar die Hausbesetzer hinter der Touristenattraktion des Parc Güell ihre Kritik in english.

Ocupa y resiste

Internationales Flair im Widerstand! Wo soll das nur enden?

Aber damit Dir nicht der Kamm schwillt vor Stolz, muss ich schon auch noch auf eine peinliche Entdeckung hinweisen, die ich an der Fassade einer dieser neuen Chinesenbars gemacht habe. Bisher dachte ich ja, dass Deppenapostrophe eine deutschsprachige Genitiv-Spezialität insbesondere im Fällen wie „Gabi’s Frisurenstube“ sind. Weit gefehlt, liebe Leut‘!
Droben, oberhalb der Diagonal im Ortsteil Gràcia an der Ecke Travesera und Passeig de San Joan betreibt ein gewisser „Carlo’s“ seine Sandwicheria. – Mensch, Kalle!

Deppenapostrophe im Ausland!

Adiós, Barcelona, bleib wie Du bist bis zum nächsten Mal!

Anís del Mono

Sólo para adultos

Sollten Sie sich schon immer gefragt haben, was Charles Darwin und ein Zuhälter aus einem Arbeitervorort Barcelonas gemein haben, lesen Sie ruhig weiter. Meine Geschichte ist SFW und auch nicht nur für Erwachsene geeignet.

Das Getränk allerdings, um das es dabei geht, sollte nur von Erwachsenen konsumiert werden, auch wenn es süß schmeckt. Ich empfehle es ausdrücklich, wenn Sie sich nach einem schönen Mittagessen am Strand, einer Paella in Gavà etwa, oder einer ausgiebigen Tapasorgie in den frühen Nachtstunden nicht zwischen Kaffee und Digestif entscheiden können. Bestellen Sie sich einen carajillo, ein „Schwänzchen“. Ein solches Schwänzchen entsteht, wenn der Barmann dem café solo statt des üblichen Schusses Milch einen gehörigen Schwups Schnaps zugibt. Carajillos bekommen sie in allen Bars und Restaurants, auch wenn sie in gehobenen Etablissements bei der Bestellung womöglich scheel angesehen werden; gilt doch der Schnapskaffee in besseren Kreisen als Getränk der Fernfahrer und Luden.

Welche Art von Hochprozentigem beigegeben wird, hängt von Ihrer Bestellung ab. Der Klassiker ist der carajillo de coñác, aber ich kenne Menschen, die den carajillo de ponche bevorzugen, einem andalusischen Likör auf Brandybasis. Ich selbst, mit Verlaub, trinke ausschließlich carajillo de anís. Und es sollte schon mit Anís del Mono sein, dem spanischen Anisklassiker aus dem Jahr 1870.

Anís del Mono wird seit jeher in Badalona hergestellt, einem Vorort nördlich von Barcelona, in dem die Arbeiterbevölkerung dominiert. Dies ist auch der Grund, warum mich meine Freunde – scherzhaft, so hoffe ich – als chulo de Badalona betiteln, wann immer ich einen aufgeschnapsten Kaffee bestelle. Denn wer, außer den Zuhältern aus Badalona, trinkt schon carajillo de anís?

Lassen Sie sich nicht beirren: carajillo de anís duftet und schmeckt hervorragend – vor allem, wenn er mit Anís del Mono aus Badalona hergestellt wird. Das ist nämlich der beste.
Das sage nicht nur ich, sondern auch die Wissenschaft. Auf dem Etikett der Flaschen ist ein Affe abgebildet, der die Gesichtszüge von Charles Darwin trägt und in einer Hand eine Schriftrolle hält, auf der zu lesen steht: Es el mejor. La ciencia lo dijo y yo no miento. Übersetzt heißt dies: „Er ist der beste. Das hat die Wissenschaft gesagt, und ich lüge nicht“.

Zur Zeit der Anísschnaps-Firmen-Gründung im neunzehnten Jahrhundert hatte gerade Charles Darwin seine These der menschlichen Abstammung von den Affen in seinem Werk über den Ursprung der Arten veröffentlicht. Der Aníshersteller Vicente Bosch beauftragte daraufhin den Künstler Ramón Casas mit der Gestaltung des Flaschenetiketts, das seither unverändert als Werbeklassiker erhalten blieb.

Bestellen Sie also bei Ihrem nächsten Spanienurlaub einmal einen carajillo de anís, el anís del mono; dulce, si hay. Und beeindrucken Sie beiläufig Ihre Begleiter mit  profunden Geschichtskenntnissen ;-)

Anís del Mono
»Er ist der beste. Die Wissenschaft hat es gesagt, und ich lüge nicht.«

 

Turismo en BCN

Kennt Ihr Euch aus in Eurer Stadt? Also ich meine: Kennt Ihr Euch so gut aus, dass Ihr Besuchern alle Sehenswürdigkeiten erklären könntet? Nicht unbedingt mit genauen Jahreszahlen, aber doch so, dass Ihr vortragen könnt, wer wann was gebaut, zerstört oder angeleiert hat? – Ich kann das nur ansatzweise:

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Dass beispielsweise die katalanische Flagge mit vier roten Streifen damals entstanden sein soll, als Wilfried der Haarige irgendwann im Mittelalter in einer Schlacht verwundet wurde und sein König, Karl der Kahle, mit dem Blut des Getreuen vierfingrig rote Streifen auf dessen güldenen Schild zeichnete, das bekomme ich immer noch hin. Alleine schon wegen dem „Haarigen“ und dem „Kahlen“, das vergisst man nicht so leicht. Das ist Stoff für Heldensagen.

Da aber Tochter 3.0 zuletzt im Kindergartenalter in Barcelona weilte, dachte ich mir: Komm, lass uns doch mal einen Tag auf Touris machen. Am Samstagabend machte ich also Eintrittskarten für eines der bekannten Stadthäuser Antoni Gaudís und für eine Stadtrundfahrt mit Doppelstöcker-Cabriobussen klar. Im Internetz hieß es: „Ersparen Sie sich das Schlangestehen, wir schicken Ihnen alle Tickets per E-Mail nach Hause, Sie steigen direkt in den Bus!“ – Gebucht, bezahlt, Karten als PDF erhalten, alles gut!
Und weil die eingehenden Mails mit dem Hinweis endeten, man solle doch von wegen Umwelt auf das Ausdrucken verzichten, speicherte ich die Tickets zusammen mit einem Routenplan der Touribusse von deren Website fein säuberlich auf meinem smarten Phone ab.

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Am nächsten Tag knattern wir also auf unserer fahrbaren Motorsäge am späten Vormittag zu einer Touribushaltestelle, die ich für unverdächtig hielt; weit vom Zentrum abgelegen würde es dort keine Warteschlangen geben, nicht um diese Uhrzeit.
Und tatsächlich, der Bus steht da, außer uns kein Mensch in Sicht, abgesehen von der Busbegleiterin in rot, die uns mit der Sonne um die Wette entgegen strahlt.

Doch das war ’s dann auch schon. Als ich das Mobiltelefon zücke, erstarrt das Lächeln der roten Dame. Das ginge leider nicht. Weil: ich würde ja jetzt Fahrscheine auf Papier bekommen und dafür bräuchte ich das Bestellticket ebenfalls auf Papier ausgedruckt. Sozusagen im Tausch – Papier gegen Papier.
Mir werden die Knie weich. Wie war das gewesen? Von wegen Umwelt? Verzichten Sie auf das Ausdrucken?

Im mentalen Blutrausch heiße ich die Tochter, erneut auf dem Soziussitz Platz zu nehmen. Wir sägen hinunter ins Zentrum, zur Touri-Zentrale im Untergeschoß der Plaza Catalunya. Dort stehen wir mit Blutdruck eine Stunde lang zwischen Franzosen, Engländern und Russen in der Warteschlange, bis ich schließlich – Du ahnst es nicht! – die E-Mail-Tickets vom Vortag erneut per Mail an die Touri-Zentrale zurückschicken darf und uns die Tickets ausgedruckt werden.

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Ach ja: Vergessen Sie das, was ich Ihnen da oben über Tourismus in der eigene Heimat gesagt habe. Begehen Sie niemals diesen Fehler. Und verwenden Sie um Himmels willen niemals Touristenverkehrsmittel in ihrer Heimatstadt!
(Erwähnte ich bereits, dass es in Barcelona zum Motorroller verkehrstechnisch keine Alternative gibt?)

Neues aus BCN

Sehr schnell geht das mit der Wiedereingewöhnung. An unseren beiden ersten Tagen bin ich noch das eine oder andere Mal falsch abgebogen in den Straßenquadraten des Eixample in Barcelona. Die Tochter 3.0 saß noch ein bisschen verkrampft auf dem Soziussitz und krallte die Fäuste in den Stoff meines Hemdes. Doch seit dem dritten Tag liegt ihre Linke locker auf meiner Schulter, wie sie sich das von anderen Beifahrerinnen abgeguckt hat. Jetzt sind auch wir Teil dieses wespenartigen Schwarms von Verkehrsteilnehmern, die auf ihren zweirädrigen Rasenmähern mit brüllenden Motörchen und Vollgas an den Ampeln losflitzen, um sich von den langsameren Taxen und Lieferwagen abzusetzen.

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Barcelona hat sich beim ersten Hinsehen nicht verändert: Es ist laut, feucht-warm und randvoll mit Touristen. Beim ersten Spaziergang holen wir uns ein Tütchen Jamón Ibérico vom Markt der Boquería und schlendern hinunter zur Kolumbussäule. Die Tierschützer haben ganze Arbeit geleistet: Nicht nur, dass aus der Stierkampfarena an der Plaza España längst ein Einkaufszentrum wurde; jetzt sind auch die Vogelkäfige auf den Ramblas verschwunden, für die die Promenade einst berühmt war.

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Auf Höhe der Plaza Real verscheuche ich einen aufdringlichen Bettler. Er solle sich endlich verpissen, sonst gäbe es eins aufs Maul. Manchmal braucht es hier deutliche Ansagen, besonders dann, wenn man eine blonde Tochter dabei hat.

Unten am Hafen auf einmal tumultartige Szenen: eine handvoll Schwarzafrikaner mit prallen Stoffsäcken auf den Rücken rennen zwischen den Menschenmassen davon, gefolgt von ein paar Mossos d’Esquadra, den lokalen Polizisten. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, öffnet sich ein Tor der Polizeihauptwache und spuckt zehn weitere Mossos aus, die mit gezückten Knüppeln den Kollegen nacheilen. Kreischend stieben die Touristen auseinander.
Flüchtlinge aus Nordafrika?, denke ich und kann es gar nicht glauben. Tochter 3.0 ist ernsthaft schockiert. Aber als der erste Schwarze stürzt und sich der Inhalt seines Sackes über das Pflaster verteilt, ist alles klar. Die Kerle sind Straßenhändler ohne Lizenz, die sich überall im Stadtzentrum verteilen und Sonnenbrillen, Barça-Trikots und sonstigen Tourischrott anbieten. Sobald ein Polizist auf der Bildfläche erscheint, verschwindet die Ware in Sekundenschnelle im Sack und die Händler flitzen davon.

Wir haben genug von den Menschenmassen und sägen in ein paar Minuten die Calle Aribau hinauf nach San Gervasio, wo sich die Luft ein wenig kühler anfühlt und kaum Touristen zu sehen sind. Wir setzen uns in den Schatten im Garten einer kleinen Bar.

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In den letzten zehn Jahren hat sich eine alteingesessene katalanische Brauerei wieder vom Schock der Wirtschaftskrise erholt. In den Neunzigern hatten die Erben eines elsässischen Einwanderers die Brauerei geschlossen, doch seit einigen Jahren findet das Moritz-Bier immer mehr Freunde und auch mich überzeugt der nach dem Reinheitsgebot gebraute Gerstensaft.

Wir haben uns mit Freunden verabredet und berichten von den Afrikanern im Hafen.
Offenbar sind die nicht das einzige Problem, das die Stadt mit Zuwanderern hat. Mehr und mehr der kleinen Tapasbars werden von Chinesen übernommen. „Die setzen sich ein paar Tage lang in eine Bar, sehen sich alles ganz genau an und kommen dann mit einem dicken Bündel Bargeld wieder“, erzählen die Freunde.
Die Leute sind überzeugt davon, dass hier die chinesische Mafia agiert. Geldwäsche. Oder woher soll das ganze Bargeld kommen?

Das gleiche gilt für die Minisupermärkte, die neuerdings an allen Straßenecken wie Pilze aus dem Boden schießen. Die haben auf engstem Raum alles, was das Herz begehrt, zu normalen Preisen und von neun bis null Uhr. Geführt werden diese Läden durch die Bank von Pakistanis, die Leute sagen inzwischen nicht mehr, dass sie einkaufen gehen, sondern nur noch: „Me voy al paqui.“
Verschwörungstheorie oder pakistanische Mafia?

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Ich war dann noch mit Tochter 3.0 auf dem Montjuic. Erst einen Blick vom Schloss aus auf die Stadt werfen, danach zu Besuch an einem meiner Lieblingsorte in Barcelona: dem städtischen Friedhof. – Im Sommer ist es mir zwischen den steinernen Grabnischen zu heiß, habe ich festgestellt. Aber im Herbst oder Winter hat ein Friedhofsbesuch etwas selten Morbides.

Tapas jetzt. Und zwar dalli!

Lieblinks (8)

Luise Terminatrix Kiesselbach

An meine Lieblinks-Leserinnen und -Leser!

Die Zeit ist reif und ich bin urlaubsreif. Ich verabschiede mich zusammen mit Tochter 3.0 in meine Lieblinks-Stadt. Um dort alte Lieblinks-Freunde zu treffen und vielleicht irgendwo am Strand die Lieblinks-Paella zu essen. Außerdem will Tochter 3.0 Spanisch lernen. Bis wir wieder zurück sind, wird hier nicht viel los sein, weil mir meine Lieblinks-Urlaubsvertretung aus dem letzten Jahr abhanden gekommen ist. Aber damit Sie und Ihr trotzdem nicht ganz unverrichteter Dinge abziehen müsst, lasse ich ein paar Leseempfehlungen da.

Bei Frau Fragmente zu Cyberhause werden bestimmt viele von Ihnen schon mal gelesen haben. Früher™. Denn in den letzten Jahren war es richtig still bei ihr. Aber jetzt ist sie zurück und erzählt zum Beispiel, warum sie Snoopy-Sticker auf dem Laptop kleben hat, was sie auf ihrem Sofa treibt, über die Tücken der Promotion und über Prokrastination. – Lesen Sie das unbedingt, Sie werden es nicht bereuen!

Von ganz anderen Umständen können Sie beim Herrn Leisetöner lesen. Zum Beispiel von Sonntagskäufern mit Hut und von Profieinkäufern, von kuhäugigem niederen Verkaufspersonal und von auf-den-Sack-gehenden Chefverkäufern; also von all den Menschen, die man in Großhandelsmärkten treffen kann. – Lernen Sie das auswendig, bevor Sie in den Metro gehen.

Warum Frau Haessy nicht nach Pinneberg will, kann ich gut verstehen. (Nicht dass ich Pinneberg kennen würde. Aber ich stell mir vor, ihr geht es mit Hamburg ungefähr so, wie mir mit Barcelona: Einmal dort gewesen, möchte man nicht mehr weg.) – Wenn Sie also wissen wollen, wie das so ist, in Pinneberg, und wo man dort Dementoren finden kann, dann lesen Sie hier nach. Das sollten Sie übrigens alleine schon deshalb tun, damit Sie nicht irgendwann Gefahr laufen, sich reflexartig die Augäpfel herauszureißen.

¡Hasta pronto! – Aber bevor ich gehe, lasse ich Ihnen noch eine kleine Aufgabe da: Vielleicht haben Sie sich ja schon gefragt, wer das da ganz oben auf dem Bild ist? Nun, Sie haben die Wahl: Ist das ein Szenenausschnitt aus dem neuen Terminator Genisys? Oder ist auf dem Foto ein mir gut bekannter, verirrter Besucher bei der Einweihungsfeier des Luise-Kiesselbach-Tunnels zu sehen? – Hinterlassen Sie Ihre Antwort als Kommentar unter diesem Text. Unter allen richtigen Antwortern verlose ich eine kleine Überraschung aus Barcelona, sobald ich wieder zurück bin, irgendwann in der zweiten Augusthälfte.

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Und wenn Ihnen langweilig wird, lesen Sie doch meine Lieblinks (7)

#hotpantsverbot

Derzeit wird es saisonbedingt wieder ziemlich eng bei der Themenfindung für alle öffentlichen Schreiberlinge, egal ob für Journalisten im Broterwerb oder für die Bloggeria aus Idealismus. Die Hitze dampft für alle gleichermaßen die Synapsen trocken, und der Dauerbrenner #grexit ist längst zum Schulterzucker verkommen. Gerade noch versorgte die Kanzlerin mit #merkelstreichelt die Empörungskader jeglicher Couleur mit Futter; und bevor wir uns alle mit Schippchen und Förmchen dran machen, das nächste Sommerloch auszubuddeln, will ich rasch ein paar zähe Gedanken zum #hotpantsverbot aus meinem persönlichen Baggerloch holen.

Happy Love Bug

Hinsichtlich der Standpunkte im Streit zur Kleiderordnung an Schulen ist bereits alles gesagt. Die einen reklamieren ihr Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentwicklung, die – wenn ich sie recht verstehe – notfalls auch zum gänzlich textilfreien Auftritt in der Öffentlichkeit führen dürfen soll. Die anderen benennen die notwendige gesellschaftliche Regulativfunktion als wichtige Errungenschaft bei der Weiterentwicklung der Menschheit und plädieren für Schuluniformen oder Burkas, je nach kultureller Ausrichtung .

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Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit in den 60-ern und 70-ern. Meine Altersgenossinnen und -genossen werden sich daran erinnern, dass die Schülerinnen schon damals zur Sommerzeit in abgeschnittenen Jeans und Tops zum Unterricht erschienen, die komplett rückenfrei waren und vorderseits interessante Einblicke erlaubten.

Ich weiß nicht, ob diese Bekleidung damals in irgendwelchen Zirkeln negativ kommentiert wurde. Trafen sich unsere besorgten Eltern heimlich abends? Berieten sie, wie ihre lieben Kleinen vor den Versuchungen des Fleisches bewahrt werden konnten? Hatte unser Direktor einen textilen Notfallplan in der Schublade? – Keine Ahnung. Wir hatten ja damals nix; keine Blogs, kein Twitter, nur die Tagesschau. Klar, unser Religionslehrer, der damals etwa so alt war wie ich heute, geriet regelmäßig ins Stottern angesichts frei gelegter Mädchenhaut. Aber ganz ehrlich – wir alle fanden das damals gut; vermutlich sogar der Religionslehrer.

Jedenfalls kann ich Ihnen noch heute berichten, dass die E., die zwei Jahre lang in der Schulbank vor mir saß, auf ihrem Rücken fünf Muttermale hatte, eines davon ziemlich groß. (Ich behaupte, eine derart präzise Aussage können die wenigsten Männer über ihre eigenen Ehefrauen machen!)
Übrigens hatten wir in den Jahren ’76 bis ’78 eine Chemielehrerin, die erstens einen roten Porsche 924 fuhr und zweitens unter ihren Blusen keinen BH zu tragen pflegte. An einem heißen Sommernachmittag, die Fenster des Klassenraums waren sperrangelweit geöffnet, waren unten auf dem Pausenhof Handwerker zu Gange, die unerwartet die Lautstärke ihres Kofferradios aufdrehten. Chemie um 15 Uhr vs. Roy Orbison:

Pretty woman, won’t you pardon me?
Pretty woman, I couldn’t help but see
Pretty woman, you look lovely as can be
Are you lonely just like me?

Chor war bei uns übrigens verpflichtendes Schulfach auch in der Oberstufe. Und so sangen urplötzlich zehn halbwüchsige Jungs den Song mit. Ziemlich melodie- und ziemlich textsicher. Wenn Sie mich nach einem Beispiel für Glück fragen wollten: In diesem Moment waren wir glücklich. Und zwar alle in der Klasse Anwesenden, gleich welchen Geschlechts, gleich welcher Generation.

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Was ich damit sagen will: Vielleicht wäre es auch heute für alle eine ganz gute Idee, von den jeweiligen ideologischen Felsen herunterzuklettern, die Keulen beiseite sowie – statt derer – gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme an den Tag zu legen, damit wir alle wieder ein bisschen stressfreier miteinander umgehen können. Das Leben könnte so schön sein.

[lightgrey_box]Das ist mein Beitrag zum zehnten Stichwort im Schreibprojekt *.txt. Die Textbeiträge zu allen anderen Stichworten, sowie Links zu den Projektseiten findet man nach einem Klick auf „Mein *.txt“.[/lightgrey_box]

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