Karfreitags: Nudeln gehen immer

Die wollen nur schreiben.

Jetzt hat es mich erwischt: Herr Bee findet, dass mein erfundener Fortsetzungsband zu den Pippi-Langstrumpf-Erzählungen am besten zu seinem Broadway-Szenenfoto passt, und sogleich verpasst er mir deshalb den Wanderpokal der Freitagstexter. Natürlich freut mich das sehr, und ich sag auch brav Danke dafür, auch wenn ich noch im gleichen Atemzug einen Seufzer ausstoße: Mein Freitagstexter fällt diesmal ausgerechnet auf den Karfreitag, die Prämierung auf den Mittwoch nach dem langen Osterwochenende. Wir werden ja sehen, wer sich zwischen Osterlamm und mineralöl-verseuchten* Liköreiern noch eine gute alte Portion Nudeln wird geben wollen.

Unter diesem Bild könnte Ihr Text stehen!

Wischen Sie sich doch mal die schokoladeverklebten Finger ab, suchen Sie die Tastatur unter dem Haufen Stanniolpapier und verraten Sie uns, was Ihnen angesichts der Essgewohnheiten der jungen Dame auf dem Foto durch das österliche Eierhirn geht. Die Spielregeln sind einfach, und schon am kommenden Mittwoch können Sie Ausrichter der nächsten Runde sein.

Ich freue mich auf Ihre Geistesblitze in den Kommentaren! – Habe die Ehre bis zur Preisverleihung am 30. März …

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P. S.: Weil ja heute die Fastenzeit zu Ende geht und wegen der Extraportion Spaghetti, die hier oben in der Küche wartet, folgt noch rasch der Abschlussbericht meiner Zeit ohne Alkohol und mit etwas reduzierten Mahlzeiten seit Aschermittwoch.

Fastentage: 44
Gewicht: minus 4 Kilo (Wunschergebnis)

Terminator

Terminator

In der Folge des Tages, an dem in Tschernobyl der Atommeiler in die Luft gegangen war, saß der harte Kern der Bikertruppe im Valley am Tresen. Schweigend und mit starren Blicken lauschten Händi und Rita, Beats, Mikey, Rollo und ich der Dauernachrichtensendung im Radio, in der sich die Meldungen von Mal zu Mal in Hinblick auf das Ausmaß der Katatstrophe überboten.
„Tschernobyl? Scheiße, wo issen das?“, Mikey sah zu mir herüber, weil er mich für den sichersten Kandidaten in der Runde für verlässliche Ortsbestimmung auf dem Globus hielt. Aber auch ich war total blank.
Tschernobyl? Pripyat? – Mist, ich wusste noch nicht mal, wo genau die Ukraine lag. Irgendwo in der UdSSR.
„Bei den Russen?“ Mikeys Blick irrte von Gesicht zu Gesicht. „Aber die Soße zieht jetzt von dort nich‘ über uns drüber, oder?“
Wieder starrten sie alle mich an. Doch ich zuckte nur ratlos die Schultern. Auf sowas hatten sie uns am Gymnasium nicht vorbereitet. Ich hatte keine Ahnung, ob wir nun alle in einer radioaktiven Wolke vom Stangerl fallen würden wie Kanarienvögel vor einer Schlagwetterexplosion.
„Vielleicht sollten wir alle nochmal vernünftig Urlaub machen?“ Rita reagierte wie immer pragmatisch, praktisch, gut. Vielleicht mussten wir bald alle den Löffel abgeben? Na und wenn schon. Dann sollten wir aber vorher besser nochmal das Meer sehen und uns alle zum letzten Mal einen guten alten Sonnenbrand einfangen.

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Ein paar Wochen nach diesem Abend machten wir uns also auf in Richtung Atlantik. Weg von der Gefahr aus dem Osten, ab nach Westen. Die U.S.A. lag auch im Westen. Westen war also in jeder Hinsicht prima.
Beats, Mikey, Rollo und ich hockten auf unseren Maschinen, Händi chauffierte Rita und die beiden aktuellen Bräute von Mikey und Rollo in einem Chevy Van Wohnmobil. In dieser Karre mit ihrem sonor blubbernden Vier-Liter-Motor hatten auch die Biker ihr Gepäck untergebracht, wir sparten uns also die ganze regendichte Packerei.

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Unverzeihlich! Beinahe hätte ich Euch einen fünften Biker unterschlagen. Denn kurz vor der Fahrt war noch ein Unbekannter zur Truppe gestoßen. Rollo hatte irgendwo einen Kerl aufgegabelt, der sich dann im Valley als „Borg“ vorgestellt hatte. Borg wie Cyborg? Kybernetisch aufgewerteter Bioorganismus? – Sowas kommt vielleicht heute im Zeitalter der Selbstoptimierung gut an. Vor dreißig Jahren war das einfach nur saublödes Gequatsche; fanden zumindest Rita und ich.

Der Neue war tatsächlich ein komischer Vogel; im wahrsten Sinne des Wortes, wie wir gleich lesen werden.
Borg verbrachte ohne Zweifel seine Freizeit mit schwerem Eisen. Er hatte das überbreite Kreuz, die Wespentaille und säulenartigen Beine eines Bodybuilders, doch die einzelnen Körperteile passten proportional nicht zueinander. Seine Muskelpakete wirkten übertrieben, vor allem der Kopf thronte dagegen wie zu heiß gewaschen und eingegangen auf den massigen Schultern.
„Wie ein Vogelkopf“, merkte Rita trocken an, als Borg nach seinem ersten Besuch im Valley gegangen war.

Ja, das traf es ziemlich gut. Dieser Eindruck verstärkte sich sogar, wenn man den Kerl eine Weile beobachtete. In Unterhaltungen zuckte sein Kopf ständig abrupt hin und her, wenn Borg seinen starren Blick dem jeweiligen Sprecher zuwandte. – Wie bei einem Gockel auf dem Misthaufen, schoss es mir durch die Gedanken.
Aber immerhin: Der Neue fuhr eine Harley Fat Boy, genau so eine wie Arnold Schwarzenegger in den Terminator-Filmen. (Den ersten und damals noch einzigen Teil des Fantasy-Thrillers hatten wir Jungs aus dem Valley erst ein paar Monate zuvor gemeinsam im Kino geschaut. Natürlich mit riesengroßem Hallo danach.)

Wenn Ihr also ein Bild zum Auftritt von diesem Borg sucht, stellt Euch einfach den Terminator in schwarzer Lederjacke auf seiner Harley vor, jedoch mit dem geschrumpften Kopf von Heino mit Sonnenbrille oben drauf, den er ruckartig hin und her bewegt. Wie so eine Raubechse aus dem Animationsstudiofundus von Jurassic Park.
Der selbstgewählte Kampfname des Kerls setzte sich übrigens nicht in der Gruppe durch. Wir nannten ihn aber auch nicht „Arnold“ oder „Terminator“ oder „Heino“, sondern „Geier“. Wegen des Vogelköpfchens.

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Geier war also auf seiner Fat Boy ebenfalls mit von der Atlantikpartie. Die Reise war ein echter Genuss. Wir gurkten ohne jede Eile in vier oder fünf Tagesetappen über französische Landsträßchen, versetzten durch unser Erscheinen die Besitzer kleindörflicher französischer Lebensmittelläden in Panik und schlugen unsere Nachtlager in idyllischen Wäldchen auf, wo wir Würstchen grillten, frisches Stangenweißbrot zu Käse futterten, Rotwein tranken und Joints kreisen ließen, bis wir irgendwann selig lächelnd in die Schlafsäcke krochen und tief in die Vormittage hinein schnarchten wie die Trüffelschweine. Über Tschernobyl bekamen wir nichts mehr mit, weil keiner von uns gut genug Französisch sprach, um Zeitungen zu lesen oder Radionachrichten zu verstehen.

An einem heißen Juninachmittag landeten wir schließlich auf einem Campingplatz in der Nähe von Biarritz. Den Atlantik hatte niemand von uns neunen zuvor gesehen, und so standen wir ein paar Stunden am Strand, ließen die Wellenausläufer um unsere Füße strudeln und starrten hinaus auf den Ozean. Hinüber über die Wellenkämme nach drüben, wo irgendwo in der Ferne das gelobte Land lag, die US-amerikanische Ostküste – Heimat der Harleys, Highways und Hamburger.
„Ich schwimm rüber!“, protzte Mikey, stürzte sich in die Fluten und wäre fast ersoffen, als ihn eine der Riesenwellen erfasste und an den Strand zurück spülte.

An unserem dritten Abend am Meer kamen Beats und ich überein, einen kurzen Trip in die Stadt zu unternehmen. Wir waren beide ohne Frauen im Urlaub, und die Hormone verbissen sich wie Pitbulls in unsere Gehirnwindungen, in denen sich unter der Hitzeeinwirkung des Strandnachmittags die fixe Idee zusammenbraute, an der Promenade von Biarritz zwei süße kleine Französinnen aufzureißen.
Geier war zwar auch ohne Begleitung unterwegs, aber wir hatten inzwischen alle mitbekommen, dass das Reden nicht gerade seine Stärke war. Er schüttelte bloß das Vogelköpfchen, als Beats und ich ihn zumindest pro forma zum Mitkommen aufforderten.

Liebe Leser! Natürlich ist auch den Wohlmeinendsten unter Euch längst klar, was Beats und ich damals erst schmerzlich erfahren mussten: Unsere Exkursion war eine grandiose Schnapsidee.
Wir fanden die Promenade. Wir fanden auch einige wirklich nette Mädchen. Aber was wir nicht fanden, waren die richtigen Worte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Verschüttetes Schulfranzösisch ist einfach keine Basis für erfolgreiches Flirten.
„Mon crayon est spitz, mon crayon est scharf …“ *

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Als Beats und ich nach dem Eingeständnis unseres Versagens und zwei Pernods in einer Strandbar später gegen elf wieder auf dem Campingplatz eintrudelten und von unseren Mopeds stiegen, saß Claudia, die Braut von Mikey, einsam und mit tränenverschmiertem Make-up unter der Markise des Vans auf einem Campingstuhl.
„Wo sind denn die anderen? Was ist los?“ Beats und ich blickten uns ratlos an. Nach viel gutem Zureden bekamen wir aus Claudia heraus, dass es Ärger in der Gruppe gegeben hatte. Scheinbar hatte Rollos Freundin Trixie zu viel Rotwein getankt, und der Geier hatte die Situation ausgenutzt und war mit ihr verschwunden.
Erst war Rollo fuchsteufelswild den beiden nach in die Dünen am Strand, und als alle anderen mitbekamen, was los war, waren auch sie hinterher. Vorher hatte Mikey seiner Claudia provisorisch noch ein paar Maulschellen verpasst und sie angeherrscht, sie solle gefälligst hier auf Beats und Brösel warten.
„Die sind doch alle voll wie die Schweine!“, heulte das Mädchen.

Beats und ich verloren keine weitere Sekunde, sprinteten durch den Sand so schnell wir konnten in Richtung Strand.
Wir kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Händi – tobend wie ein wütender Elefantenbulle – auf Geier losging, ihn anbrüllte, er solle sein ungewaschenes Maul halten und den Bodybuilder mit wuchtigen Faustschlägen vor sich hertrieb. Derart außer sich hatte ich Händi noch nie gesehen. Doch plötzlich hatte der Geier ein Klappmesser in der Hand und stach zu.
Rita und Trixie kreischten, und mit einem Mal ging alles rasend schnell, so flott konnte ich gar nicht schauen: Vor allen anderen war Beats an Geier dran, trat ihm mit dem Stiefelabsatz gegen das Knie und versetzte dem nach vorne einknickenden Mann einen Kopfstoß ins Gesicht, dass man trotz der Brandungsgeräusche das Knacken der Knochen hören konnte. Geier ging lautlos zu Boden.

Händi hielt sich den angestochenen Oberarm, während Rita versuchte, mit einem Stoffstreifen die Blutung zu stillen. Völlig entgeistert starrte ich in die Gesichter von Trixie, Rollo und Mikey. – Was in aller Welt war hier passiert?

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Es dauerte, bis wir den Strand geräumt hatten und alle wieder am Van waren. Also alle bis auf den Geier. Der lag reglos und mit gebrochener Nase hundert Meter weiter neben seiner Fat Boy, wohin ihn irgendeiner von uns geschleift hatte. Nur Rita wagte es, wenigstens seinen Schlafsack über ihn zu breiten. Dann zog sie sich wortlos mit Händi in den Chevy zurück, um seine Stichwunde zu versorgen.
Die anderen Campingplatzgäste hatten scheinbar wegen der Meeresbrandung nicht viel von der Streiterei mitbekommen.

Weit nach Mitternacht nahmen Beats und ich Mikey beseite, damit er uns endlich auf den Stand der Dinge bringen sollte:
„Also der Geier hat sich an Trixie vergriffen und ist mit ihr weg zum Strand. Die konnte sich gar nicht mehr wehren, so randvoll war die. Rollo ist natürlich hinterher, als er geschnallt hat, was los war. Und dann ist auch Händi los und endlich wir alle ihm nach. Wir waren ja sternhagelvoll, das hat alles ewig gedauert.“ Mikey zuckte entschuldigend die Schultern. Man sah ihm an, dass er auch jetzt noch immer schwer geladen hatte.
„Als wir endlich am Strand waren, steht der Händi zwischen Rollo und dem Geier, um zu verhindern, dass sich die zwei die Köpfe einschlagen. Er hat den Vogelkopf angebrüllt, der soll die Finger von Trixie lassen, sowas läuft nicht bei den Valley-Riders. Aber dann hat der Geier irgendwas geantwortet, und Händi ist mit einem Schlag explodiert wie eine Handgranate. Ich hab gedacht, jetzt bringt er den Typen um.“
„Was hat denn der Geier gesagt?“, fragte Beats nach.
„Ich weiß es nicht.“ Mikey schüttelte den Kopf. „Das Meer war so laut. Und dann war ja auch schon alles vorbei. Ihr beide seid aufgetaucht, und ich sag mal, wenn Du nicht so schnell reinen Tisch gemacht hättest, Beats, dann wär bestimmt was Schlimmes passiert.“

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Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu und nickte erst nach reichlich Rotwein im Morgengrauen weg. Womit bloß hatte der Geier Händi derartig auf die Palme gebracht?

Lang hatte ich nicht gedöst, als Rita neben mir auftauchte und mich mit einer Tasse schwarzem Kaffee weckte.
„Es ist schlauer, Du machst Dich für einige Zeit vom Acker, Brösel. Am besten noch bevor die anderen wach werden.“
Mit großen Augen starrte ich Rita an. „Aber was ist denn los? Was hab ich denn mit dem Geier zu schaffen?“
„Tja …“ Die Frau bekam es nicht hin, mir ins Gesicht zu sehen. „Der Scheißer hat Händi vorgehalten, dass er gerade nicht der Richtige wär, ihm den Umgang mit Frauen zu erklären. Er meinte, es wäre ja wohl klar wie Kloßbrühe, dass Händis Freundin … also ich … mit dem Brösel rumvögeln würde.“
Ich schluckte schwer, ohne Worte. Rita strich mir noch übers Haar und wandte sich dann ab.

Als sie wieder im Wohnwagen verschwunden war, packte ich Schlafsack und meine kleine Tasche auf die Sitzbank meiner Mühle und verließ mit bleischwerem Herzen den Campingplatz. Rollo war scheinbar schon vor mir abgehauen, während ich noch vor mich hingedämmert hatte. Sein Schlafplatz war leer, und seine Harley fehlte.

So hatte es der vogelköpfige Terminator also in einer Nacht geschafft, die Runde zu sprengen und aus Freunden Feinde zu machen. Obwohl: Gerechter Weise muss man ja festhalten, dass er nur der Auslöser war. Die wirklich Schuldigen waren ja zwei andere.

Laimer Brösel

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[lightgrey_box]Für alle, die neugierig auf die Gestalten aus den Laimer Bröseln sind, gibt es eine kleine Galerie mit Portraitzeichnungen von Rita und den Jungs aus dem Valley.[/lightgrey_box]

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*) Zitat aus der Agentenparodie Gotcha!, in der die Hauptfigur Jonathan genau mit diesen Worten seine Unfähigkeit resümiert, mit Französinnen anzubandeln.

Alles Gute zum Zehnten

Twitter wird 10

Auch wenn längst die Werbung nervt, auch wenn merkwürdige Verschlimmbesserungen wie eine gewichtete Timeline eingeführt wurden oder das Aufbohren der Tweet-Länge auf Romanformat diskutiert wird: Twitter ist das einzige soziale Netzwerk, an dem ich teilnehme. – Na ja, was man halt so unter „teilnehmen“ versteht; ein großer Tweetpupserschreiber bin ich nicht, aber zumindest lese ich gern bei anderen mit.
 
Happy birthday, Twitter!
 

Batman Go Home!

Turtel 4 Pidgeon Air Patrol

Gestatten, mein Name ist Turtel und ich bin ein großer Fan der Digitalen Revolution. Ihr verdanke ich nämlich meinen interessanten und absolut krisensicheren Job. Ich bin Angestellte bei der Pidgeon Air Patrol. Mit meinem kleinen elektronischen Rucksack fliege ich den ganzen Tag lang durch London, dafür bekomme ich 1a-Verpflegung und gratis tierärztliche Versorgung. Im Flug misst mein Rucksack verschiedene Komponenten der Luftverschmutzung, und alle Londoner können sich per Twitter die letzten Messungen in ihrem Stadtteil zuschicken lassen.

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Schweißgebadet fahre ich aus dem Schlaf hoch und reiße die Augen auf. – Verrückt. Total verrückt! Ich habe eben tatsächlich von einer Taube namens Turtel geträumt, die sprechen konnte und mir eine völlig abgefahrene Geschichte über sich und ihre geflügelten Freunde ins Ohr gegurrt hat: Sie fliegen alle mit so einer Art Smartphone auf den Rücken durch die Stadt und sammeln Umweltdaten. Hat man so etwas schon gehört!?

Soweit kommt es noch. Wie hoch war gleich noch die Smartphonedichte innerhalb der Taubenpopulation weltweit? Verwenden Brieftauben neuerdings Google Maps zur Zielführung? Senden sie sich gegenseitig WhatsApp-Botschaften: „Muss noch den Habicht abschütteln. Komme zehn Minuten später. XOXO“?
Ich muss unbedingt mehr auf mich achten, ich beginne bereits zu halluzinieren. Dabei trinke ich doch seit fünf Wochen keinen Alkohol*. Vielleicht sind das ja auch Entzugserscheinungen?

Langsam geht mein Puls zurück in beruhigende Nähe des Ruhewertes. Ich setze mich an den Bettrand und blicke gähnend durchs Fenster hinaus in den strahlend blauen Morgenhimmel. Draußen auf der Balkonbrüstung sitzt Turtel eine Taube. Zwischen den Flügeln trägt sie ein merkwürdiges schwarzes Kistchen auf ihren Rücken geschnallt. Mir schwinden die Sinne …

(via TechCrunch)

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*) Fastentage: 36
Gewicht: minus 4 Kilo (das reicht, dünner darf nicht.)

Knack & Back?

Knack & Back?

Zu Hilfe! So helfen Sie mir doch! – Kochen ist ja etwas, das ich gern mache, da krieg ich auch alles irgendwie hin. Backen hingegen ist hier Sache von Tochter 3.0. Klare Rollenverteilung, so mögen es die Wortmischers.

Letzthin jedoch fand die Tochter beim Aufräumen ein Mitbringsel ihres Freundes von den britischen Inseln und stellte es auf dem Esstisch ab.
Eine solche unkommentierte Platzierung bedeutet im Wortmischer-Wortlos-Subkontext-Kode: Mach was damit, sonst werf ich es weg!

Nun gibt es aber zum abgebildeten Gefäß keine Gebrauchsanweisung. Es enthält v. u. n. o. braunen Zucker, Mehl (eventuell bereits mit Backpulver vermengt?), nochmal braunen Zucker, Haferflocken, dunkle Schokostückchen, weiße Schokostückchen.

Und jetzt? Was tun? Milch dazu? Ei(er)? Dann alles verrühren und aus dem Fenster kippen? Unten auf der Straße gibt das garantiert einen Auflauf?

So helfen Sie mir doch!

Fragen Sie Frau Annette

Meine Bekannte, die Frau A., liebäugelt seit geraumer Zeit damit, ein eigenes Netztagebuch zu führen. „Dann könnte ich bei all diesen Umfragen teilnehmen, diesen Stöckchen“, jubiliert sie. „Überhaupt könnte ich ja ein Stöckchenblog aufmachen, in dem ich nichts anderes mache, als Fragelisten abzuarbeiten!“
„Fragen Sie Frau Annette!“, stöhne ich und stelle mir vor, wie Frau A. im weißen Arztkittel und mit rot lackierten Fingernägeln am Küchentisch über ihrem Macbook sitzt, die schwarzgerahmte Brille auf der Nase, und auf die Standardfrage „Der beste Sex?“ mit „Ja, durchaus!“ anwortet.
„Glaub bloß nicht, dass das so einfach ist“, werfe ich deshalb ein. „Da gibt es schon mal Fragen, die sich nicht so einfach beantworten lassen, wenn man ernsthaft an die Sache herangehen will. Mir zum Beispiel hat gerade der Herr Smamap so einen Katalog hereingereicht, bei dem ich doch arg ins Grübeln gerate.“
„Ach was“, winkt Frau A. ab, „stell Dich nicht so an, so schwer kann das doch gar nicht sein. Weißt Du was? Lass mich doch einfach mal für Dich auf diese Fragen antworten!“
„Du für mich? So gut kennst Du mich?“
„Na klar. Und wenn ich mal daneben liege, kannst Du das ja immer noch zurecht rücken. Du schreibst schließlich. Wer schreibt, der bleibt.“

„Wenn Du meinst.“ Noch zögere ich, schlage aber dann doch die Liste von Herrn Smamap auf. „Da, schon haben wir den Salat. Gleich die erste Frage ist echt schwierig: Wenn ich die Macht hätte, die Welt zu verändern, was würde ich verändern?
Frau A. grinst. „Das ist doch nicht schwierig, mein Lieber. So wie ich Dich kenne, ist Dir doch sonnenklar, dass Du niemals in der Lage wärst, die Welt zu verändern. Egal, wieviel Macht oder wieviel Geld man Dir andienen würde. Deine Antwort lautet also: Nichts. Du hast nämlich nicht die geringste Ahnung, was die Welt verändern könnte. Das braucht Dich aber nicht in Depressionen zu stürzen. Denn wenn die Leute ehrlich sind, weiß das keiner.“

Ich zucke die Schultern, tippe den Vorschlag von Frau A. ein und wende mich der zweiten Frage zu. „Du liebes bisschen“, murmle ich, „schon wieder so ein Hammer, hör mal: Was würde ich unternehmen, um im vorgenannten Fall zu verhindern, dass ich auch nicht besser werde, als die aktuellen »Weltverbesserer«?
Jetzt kichert Frau A. „Muss ich Dir die Antwort darauf wirklich diktieren?“
Nein, das muss sie nicht. Ich tippe schon wieder: N-i-c-h-t-s. – Logisch, wie sollte ich etwas besser machen als andere, wenn ich gar nicht wüsste was. Geschweige denn wie.

„Ha, jetzt wird es praxisnäher“, juble ich angesichts der dritten Frage. „Außerdem ist das genau die richtige Frage für Dich, eine typische Frauenfrage: Was ist für mich der GAU in einer zwischenmenschlichen Beziehung?
„Was soll das denn heißen, »typische Frauenfrage«?“ A. runzelt die Stirn und wirft mir einen strengen Blick zu. „Ich glaube nicht, dass sich Männer und Frauen bei dieser Frage unterscheiden. Es gibt nur ein einziges Kriterium, an dem eine Beziehung zwischen Menschen endgültig scheitern kann. So ein GAU tritt immer dann ein, wenn das Vertrauen weg ist, wenn es also an Ehrlichkeit fehlt. Egal ob es dabei um eine berufliche Beziehung zur Chefin oder zum Mitarbeiter, um eine partnerschaftliche Beziehung, oder um die Eltern-Kinder-Beziehung geht. – Meine Meinung. Und Deine bestimmt auch, stimmt’s oder hab ich recht?“

Allerdings hat sie da recht, die A., und ich bin schon gespannt, wie sie mit der vierten Frage auf der Liste umgeht. „So, Schätzchen. Jetzt wird es heikel. Sprich bitte langsam, damit ich alles korrekt mitschreiben kann: Was ist für mich die Hauptaufgabe eines Politikers?
„Du meinst, ich könnte bei diesem Thema ausfallend werden? Keine Angst. Isch 'ol mir vorher noch eine Glas von diese Weißwein, die so schön 'at geprickelt unter meine Bauchnabel.“ Die A. verschwindet in der Küche.
„Aha!“, stellt sie fest, als sie wieder aufs Sofa zurückkehrt. „Blanc Pescador also, den muss ich mir merken. Und die Politiker sollten sich merken, dass sie nur eine einzige Aufgabe haben. Sie sind Volksvertreter. Also sollten sie doch die Meinung der Mehrheit aller Menschen durchzusetzen versuchen, die sie gewählt haben. Oder siehst Du das anders?“

Nein, natürlich sehe ich das nicht anders und bin froh, dass wir mit der nächsten Frage mal etwas Konkretes anpacken können. „Jetzt bin ich gespannt auf Deine Einschätzung: Was ist meine liebste Freizeitbeschäftigung?
„Jetzt hat er Dich am Wickel, mein Lieber.“ Frau A.’s Augen blitzen. „Wahrscheinlich würdest Du Dich an dieser Stelle ganz gern hinter Deiner kulturellen Überlegenheit oder Deiner Sportlichkeit verstecken. Mit sowas wie »Bücher lesen« oder »Gipfelstürmen«. Aber das wäre nicht die Wahrheit, denk nur an die Frage mit dem zwischenmenschlichen GAU. Tatsächlich ist es Dir doch am liebsten, mit Leuten wie mir herum zu hängen, dabei Musik zu hören, etwas zu trinken und küchenphilosophische Reden zu schwingen. Dafür lässt Du jedes Buch und jeden Sportschuh liegen. Sonst würden wir doch gar nicht über all diese Fragen sprechen.“

„Na ja, ganz ehrlich: Momentan redest Du und ich schreibe mit“, versuche ich mich herauszureden und habe schon ein wenig Angst vor A.’s Antwort auf die nächste Frage. „Was meinst Du: Würde ich gerne die Möglichkeit haben, etwas in meinem Leben ungeschehen machen zu können?
„Herrje! Du? Etwas ungeschehen machen wollen? Das glaub ich nicht. Das würde so gar nicht zu Dir passen. Geschehen ist geschehen, man muss einfach das Beste daraus machen.“ – Da bin endlich ich es, der grinst.

„Sieh mal“, fahre ich rasch fort. „Natürlich kommt jetzt noch die obligatorische Frage: Warum schreibe ich einen Blog?
„Geh mir fort. Die hast Du doch längst beantwortet, und das nehm ich Dir auch so ab.“

Wo sie recht hat, die Frau A., da hat sie recht. Rasch lese ich also die beiden folgenden Frage vor, weil sie thematisch zusammengehören: „Glaube ich an eine Religion? – und – Was wäre für mich die Konsequenz, wenn sich plötzlich herausstellt, dass alle Religionen dieser Welt gegenstandslos sind; es keinen Schöpfer gibt?
Da bricht die A. augenblicklich in gackerndes Gelächter aus. „Entschuldige bitte, ich wollte Dich nicht ärgern. Aber Du und Religion? Zwei Welten prallen aufeinander! Also gäbe es auch keine Konsequenz für Dich, wenn es keinen Schöpfer gibt. So rechthaberisch bist Du nicht, dass Du dann aufstehen würdest, um herumzubrüllen: »Ich hab es doch schon immer gesagt!«. Wahrscheinlich würdest Du einfach die Schultern zucken und Dir ’nen Obstler genehmigen.“

Wenn nur alle Fragen so einfach wären. Bei der nächsten hab ich selbst nämlich tatsächlich keine Idee. Also bin ich sehr gespannt, wie das Frau A. sieht.
„Was meinst Du: Ich kann einen einzigen Menschen, meiner Wahl, treffen, egal ob noch lebend oder schon gestorben; für welchen Menschen entscheide ich mich?
„Tja, ich könnte es mir jetzt einfach machen.“ Gerät die A. nun doch ins Stocken? „Ich könnte behaupten: für mich. Schließlich bist Du doch froh, dass ich Dir hier die Arbeit abnehme mit diesen ganzen Fragen. Aber das wäre einerseits vermessen und andererseits bestimmt auch zu kurz gesprungen.“
Ich hole der A. noch einen Nachschlag Prickelwasser, das ihre Synapsen stimulieren, und ein Tellerchen Bruchschokolade, die ihre Antwort gnädig ausfallen lassen soll.
„Das ist gar nicht so einfach“, sinniert Frau A. „Mit so Leuten wie Marx, Einstein, Willi Brandt oder Francisco Franco, die Dich als Personen interessieren könnten, hast Du gar keine gemeinsamen Gesprächsthemen, wenn Du ehrlich bist. Da biste einfach zu wenig im Thema. Es müssten also schon Menschen sein, die Dich inspirieren und mit denen Du ausreichend Gemeinsamkeiten hast …“
Frau A. hat das Schokoangebot schwer dezimiert, als es endlich aus ihr herausplatzt:
„Ich hab’s! – Martenstein. Harald Martenstein. Den magst Du doch, und ich finde, der tickt ganz ähnlich wie Du. Außerdem könnt Ihr beide schreiben, auch wenn er das beruflich macht und Du just for fun. – Ich stell mir das toll vor: Zwei weiße alte Männer sitzen im Orient Express, trinken Kognak, rauchen Zigarren und ziehen dabei über die Welt her.“

Was soll ich sagen? Irgendwie könnte ich mich mit Frau A.’s Vorschlag recht gut anfreunden, jedenfalls bis auf den Teil mit den Zigarren. Auch wenn ich selbst nicht im Traum darauf gekommen wäre.
„Apropos Traum. Da sind wir auch schon bei der allerletzten Frage, denk gut über Deine Antwort nach: Was ist mein sehnlichster Traum?
„Dein sehnlichster Traum?“ Die A. starrt mich an, als wolle sie mit ihrem Röntgenblick ins Innere meines Schädels eindringen. „Du träumst? … Aber natürlich träumst Du. Jeder Mensch träumt. Und bestimmt hast auch Du Wunschträume. Aber einen »sehnlichsten Wunsch« kann ich mir bei Dir gar nicht vorstellen. Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das musst Du schon selbst übernehmen.“

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Ich bin erstaunt, wie erfolgreich sich die gute A. durch meine Antworten hindurch laviert hat. Scheinbar kennt sie mich wirklich ziemlich gut. Sogar die letzte Antwort passt: Ich habe keine sehnlichsten Wünsche. Über unrealistisches Zeug wie Weltfrieden oder Gesundheit für alle schüttle ich nur den Kopf, ich verschwende meine Wunschtraumzeiten doch nicht an Unerreichbares. Und für mich selbst hab ich keine besonderen Wünsche.

Ach ja: Eine Antwort hätt ich noch. Nämlich die Antwort auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Die lautet nämlich nicht 42, mein lieber Douglas, sondern 3,1415926. – Juhu! Heut ist Welt-π-Tag!

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(Wie immer erspare ich mir und Euch aus bekannten Gründen die Weitergabe des Stöckchens. Falls Frau A. ihr angedachtes Stöckchenblog wahr macht, erfahrt Ihr das selbstverständlich als erste.)

Über Autizität und American Burger

Yamaha XS650

Der Anzinger brauchte Geld. Dringend. Er war abgebrannt und auf jede müde Mark angewiesen. Wahrscheinlich hatte er Wettschulden, jedenfalls gab es Ärger mit zwei üblen Yugos mit pockennarbigen Gesichtern, die draußen auf der Straße in einer verbeulten BMW-Limousine auf ihn warteten.
Seinen runtergefeudelten Ford Capri hatte der Anzinger vorhin für fünf Hunderter an den Leutnant aus Plön verscherbelt, und unser Koch hatte ihm eine vollständige Playboy-Sammlung aus drei Jahrgängen für zweihundert Mäuse abgekauft. Jetzt war ich dran. „Für Dich hab ich noch was ganz Feines, Brösel.“ Der Anzinger grinste.

Wir saßen im sonst menschenleeren Gastraum des Offizierskasinos in der Kaserne an der Schweren-Reiter-Straße, in der in den Achtzigerjahren bereits viele der alten Langbauten leer standen. Ein seltsames Paar mussten wir abgegeben haben: Der Anzinger im Grünzeug und in Springerstiefeln, ich daneben im hellblauen Kurzarmhemd und der dunklen Stoffhose der Luftwaffe. Er eins fünfundneunzig, ich eins siebenundachtzig. Der Anzinger mit dem Erscheinungsbild des kleinen Bruders von Richard Kiel, den Ihr vielleicht als den „Beißer“ aus den James-Bond-Filmen kennt, mit der Schulterbreite eines ausgewachsenen Bisonbüffels und 120 Kilo Muskeln auf den Rippen. Daneben ich, der Gymnasiastenschlaks mit schlappen 80 Kilogrämmchen einschließlich Gräten.
Wie der Anzinger mit wirklichem Namen hieß, weiß ich nicht mehr. Er kam jedenfalls aus dem Ort Anzing, aus dem breiten Speckgürtel um München, und so wurde er von allen genannt. Im Offizierskasino war er als Tellerspüler eingesetzt, während ich die Schichten für zwei Köche und vier Ordonnanzen einteilte und für die Restaurantabrechnung des Kasinos zuständig war. Der Anzinger konnte mich gut leiden, weil ich der erste war, der sogar den Tellerwäscher an den Trinkgeldeinnahmen beteiligte.

„Du stehst doch auf Mopeds, oder?“ Der Kerl zog mich auf die Beine und lotste mich über die aufgeplatzten Asphaltwege des Kasernengeländes in den hinteren Bereich, wo sich längst niemand mehr die Mühe machte, das sich sammelnde Gerümpel wegzuräumen, und wo einige seit Jahrzehnten nicht mehr genutzte Garagen mit rostigen Blechtoren standen.
„Ein ganz schnuckeliges Maschinchen hätte ich da für Dich im Angebot!“ Er klappte das Flügeltor einer der Garagen auf und knipste eine nackte Glübirne an, die Licht ins Dunkel des Raumes bringen sollte. Entgeistert starrte ich auf den schimmernden, frisch lackierten Rahmen eines Motorrades, der in der Mitte des Raumes auf Holzbohlen aufgebockt stand. Kein Motor, keine Reifen, nichts außer dem Rahmen.
„Schnuckeliges Maschinchen, sagst Du?“, murmelte ich.
„Na ja, die muss nur noch wieder zusammengebaut werden, Brösel. Ein Kinderspiel. Ist alles da, fehlt kein einziges Schräubchen.“ Der Anzinger deutete auf Holzregale, die an allen drei Wände der Garage standen und in denen unzählige beschriftete Pappschachteln standen.
„Und was wird das, wenn ’s mal fertig ist?“, wollte ich wissen.
„’ne Yamaha. XS650 Spezial. Ein geiler Chopper ist das, Brösel!“
„Geiler Chopper? Es gibt keine geilen Chopper außer Harleys“, schnaufte ich. Diese Weisheit hatte ich natürlich von meinen Freunden im Valley übernommen. „Was soll er denn kosten, Dein Chopper?“

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Zehn Minuten später eierte der Anzinger mit den Gesamteinnahmen aus seinem Totalausverkauf in Höhe von 750 Mark davon, um sich bei den Yugos freizukaufen. Ich blieb in der Garage zurück – neben dem schwarz glänzenden Rahmen einer Yamaha und einem Haufen Schrauben und Einzelteilen.

BremspumpenexplosionIch besorgte mir ein Werkstatthandbuch für die XS650, in dem das ganze Ding schräubchenweise in detaillierten Explosionszeichnungen dargestellt war. Ich brauchte fast drei Monate für die Montage, obwohl der Anzinger nicht gelogen hatte. Die Einzelteile waren tatsächlich vollständig. Als ich die Maschine zusammengesetzt hatte, blieb sogar eine ganze Menge Schrauben und Beilegscheiben mysteriösen Ursprungs übrig.

Der Tag der Jungfernfahrt fiel auf einen Samstag. Ich befüllte den Tank aus einem Benzinkanister, goss diverse Schmiermittel und Bremsflüssigkeit in die Vorratsbehälter und pinselte zuletzt mit großer Hingabe und blauer Acrylfarbe ein selbstgemachtes TÜV-Siegel auf das alte Nummernschild. Dann stülpte ich mir einen zerkratzten Jethelm über den Kopf und ließ mein Schnuckelchen durch die Kaserne knattern, passierte den Schlagbaum am Tor und kurvte schließlich mit polterndem Zwillingszylinder und stolz wie Oskar die Leopoldstraße hinunter zur Feldherrnhalle am Odeonsplatz.

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Ein paar Stunden später stellte ich die Yamaha auf dem Bürgersteig vor dem Valley ab, wo sonst Händi und die Jungs ihre Harleys parkten. Ich legte den Helm auf die Sitzbank und betrat die Kneipe. Am frühen Samstagnachmittag war Rita noch allein hinterm Tresen. Ich setzte mich auf einen der Barhocker, ließ mir erst mal ein Bier zapfen und unterhielt mich mit Rita über ihre Schwierigkeiten, mit dem Betrieb des Valley Geld zu verdienen.
Kurz darauf rumpelte Mikey Zappa herein. Ganz aufgeregt war er, seine öligen Korkenzieherlöckchen tanzten auf dem Kopf, die Augen blitzten.
„Hey, habt Ihr den Reiskocher draußen gesehen? Welcher Irre stellt eine Japanmühle vor unserem Schuppen ab? Ist der Typ noch ganz dicht?“
Mikey glotzte Rita an. Rita glotzte mich an. Ich starrte auf mein Bierglas, grinste stumm und bildete mir ein, das langsame Ticken von Zahnrädchen hinter Mikeys Stirn hören zu können, bis er schließlich in ein hysterisches Gackern ausbrach.
„Ich glaub ’s nicht. Der Brösel. Fährt uns mit ’ner japanischen Nähmaschine auf den Hof. Is‘ nicht wahr, oder?“

Das gleiche Spiel wiederholte sich noch dreimal mit nur minimal abgewandelten Texten, als nacheinander Händi, Rollo und zuletzt Beats eintrudelten. Sie alle lachten sich schlapp und trommelten mit ihren Patschhänden wie zum Trost wegen des mickrigen Maschinchens auf meinen Schultern herum.

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Ich weiß nicht, was die Valley-Riders damals in mir sahen. Ich passte so überhaupt nicht zu der Truppe, war Jahre jünger als sie und im Vergleich zu ihren Gestalten ein schmales Handtuch. Nur weil ich Händi, dem Boss, einmal einen Gefallen getan hatte, war ich als Gast aufgenommen worden. Wahrscheinlich war ich eine Art Maskottchen für sie, vielleicht sowas wie ein kleiner Bruder für den einen oder anderen, oder gar ein Sohnersatz für Händi?

Jedenfalls hielten sie mich aus ihren meist nicht koscheren Angelegenheiten heraus, wofür nicht zuletzt Rita verantwortlich war. Die machte Händi unmissverständlich klar, dass sie es nicht erleben wollte, mich mit blauem Auge oder blutigem Kopf aus irgendeiner Auseinandersetzung der Valley-Riders zurückkommen zu sehen. Sonst würde er, Händi, etwas erleben!

Andererseits verschaffte mir die Harley-Truppe im Glasscherbenviertel des Münchner Westends durchaus eine brauchbare Reputation. Nachdem ich zwei- oder dreimal im Pulk von fünf schweren Motorrädern durch Laim gepoltert war, traute sich keiner im Viertel mehr, mir auf der Straße auch nur einen scheelen Blick zuzuwerfen.
Doch dummer Weise übertrug sich diese Zurückhaltung auch auf die Mädchen, die mir gefielen. Wann immer ich eine ansprach, schlug sie die Augen nieder und sah zu, dass sie fortkam. Ihren Müttern, Vätern und Brüdern wäre ich als Freund ganz bestimmt nicht vermittelbar gewesen.
Mein Image wandelte sich in weniger als einem Jahren vom Milchbubi zum einsamen Wolf, was mir nicht sonderlich schmeckte und mich noch enger an die Jungs aus dem Valley band.

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Immerhin kümmerten sich damals alle Biker rührend um mich, auch jetzt mit meinem minderwertigen „Reiskocher“. Eine Woche später hatte ich nicht nur eine echte TÜV-Plakette auf dem Nummernschild und offizielle Papiere für die Yamaha in der Tasche. Auf dem Schrottplatz, den Händi unter der Bezeichnung „Gebrauchtwagenhandel“ direkt am Straßenstrich an der Friedenheimer Straße betrieb, schraubte Mikey einen selbstgeschweißten Hochlenker an das Maschinchen und klebte einen Totenkopfsticker auf den Tank. „Wegen der Autizität“, merkte er wichtig an.
Dass ich damals noch nicht mal den Führerschein für meine Mühle hatte, wagte ich gar nicht zu gestehen, und holte die Prüfung in aller Stille heimlich nach.

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Die einzige aber, die mich damals wirklich ernst nahm, war Rita. Nachdem ich ihr einmal beim Aufräumen der Kneipe geholfen hatte, adoptierte sie mich als Gehilfen im Valley. Ich räumte das Lager auf, brachte die Kühlkammer auf Hochglanz und setzte mich zuletzt an Ritas Buchführung. Ich sortierte Warenrechnungen und Kassenbelege, rechnete Glasbruch und sonstigen Schwund ab, hübschte die Gewinn- und Verlustrechnung auf, so dass der Laden nach dem Nullsummenspiel der letzten Jahre endlich in eine beruhigende Einnahmesituation geriet. Wie man das anstellte, hatte ich schließlich im Offizierskasino der Kaserne gelernt.
Dafür bekam ich freie Kost und Getränke, und mindestens einmal die Woche steckte mir Rita ein großzügiges Trinkgeld zu.

Seine Glanzzeit erreichte das Valley etwa ’83, als zum ersten Mal überhaupt in der Kneipengeschichte eine Speisekarte auf dem Tresen lag, nach der es an Freitagabenden Leberkäs mit Spiegelei und Bratkartoffeln und samstags American Beefburger mit Pommes zu bestellen gab.
Rollo verstieg sich damals in eine Grundsatzaussage geradezu politischer Dimension, als er den Burgern ein Loblied sang und darauf hinwies, welchen zivilisatorischen Vorsprung die U.S.A. vor Deutschland hatten: Harleys, Burger und Ronald Reagan!
„Seht Euch doch um, Leute. Die Amis wählen sich einen Schauspieler zum Präsidenten, und wen kriegen wir hier ab? Birne Kohl. Ich meine, das sagt doch schon alles, oder?“

Nur Händi warf seiner Rita und mir ab und zu nachdenkliche Blicke zu, wenn wir Seite an Seite die Burgerteller aus der Küche an die Tische schafften oder nachts zur Sperrstunde noch klar Schiff machten. Wahrscheinlich ahnte er, dass sich Rita bei mir dann und wann noch ein wenig mehr holte als bloße Unterstützung in der Küche. Vermutlich hatte er noch nicht mal etwas dagegen. Ich erinnere mich an einen schweren alkoholischen Absturz im Valley, bei dem mir Händi mit flatternder kubanischer Rumfahne ins Ohr nuschelte, dass er sich längst die Libido weggesoffen hätte und gar nicht mehr wisse, wie das überhaupt funktionierte mit der Vögelei.

Es waren ein paar wilde Jahre, Anfang der Achtziger, an die ich manchmal mit Schaudern, aber im Großen und Ganzen mit viel Liebe zurückdenke.
Es ist noch nicht lange her, dass ich Rita zu ihrem siebzigsten Geburtstag besucht habe. Das Valley hat sie längst aufgegeben, genauso wie das Saufen. Aber was mit Händi und den Jungs passiert ist, das ist eine traurige Geschichte. Ob ich die erzählen mag, weiß ich noch nicht.

Laimer Brösel

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[lightgrey_box]Für alle, die neugierig auf die Gestalten aus den Laimer Bröseln sind, gibt es eine kleine Galerie mit Portraitzeichnungen von Rita und den Jungs aus dem Valley.[/lightgrey_box]