Elf spätgelesene Fragen

Frau Spätleses Liebsten

Frau Spätlese verteilt Preise, auf die Preisträger warten elf Fragen. Na, dann wollen wir mal. Oder?

1. Welche Ziele verfolgst Du mit Deinem Blog?

Ach, du liebes bisschen! Das geht ja gut los. Direktemang mit psychologischer Tiefenbohrung ins Großhirn. Aber machen Sie sich mal keine allzu großen Hoffnungen auf schummrige Erkenntnisse. Ich will hier weder ein Kindheitstrauma aufarbeiten, noch die Menschheit aufrütteln. In früheren Jahrhunderten wäre ich wahrscheinlich Geschichtenerzähler geworden, oder Hofnarr, weil ich nur allzu gerne fabuliere und schwadroniere. – Gebt mir irgendein Stichwort, und ich lege los. Da findet sich immer etwas, was heraus will. Wenn mir dabei jemand zuhört beziehungsweise mitliest, um so besser.

2. Welchen Film sollte man Deiner Ansicht nach auf jeden Fall gesehen haben?

Keine Frage: Is‘ was, Doc? – Mit Barbara Streisand und Ryan O’Neal. Mein Lieblingszitat aus dem Film:
Richter an den Zeugen: „Was sind Sie von Beruf?“
Zeuge (streicht sich maniriert die Haartolle nach hinten): „Ich bin Doktor. Doktor der Musik.“
Richter: „Können Sie ein Radio reparieren?“
Zeuge: „Nein.“
Richter: „Dann halten Sie den Mund.“

3. Welchem der vier Temperamente würdest Du Dich zuordnen?

Da brauche ich auch nicht lange nachzudenken, obwohl ich von Humoralpathologie, Säftelehre, mehrfarbiger Galle, Blut und Schleim etwa soviel Ahnung habe wie ein Amazonasindio von Zen-Buddhismus. Es gibt glücklicherweise ein paar freundliche Anthros in meinem Umfeld, die mir ohne Ausnahme den fast blütenreinen Sanguiniker bescheinigen. – „Der Sanguiniker wird heiter in seiner unbetrübten Art über den Stein hinweg hüpfen oder klettern.“ Ja, das könnte hinkommen.

4. Wenn Du die Wahl hättest, wo würdest Du gerne leben?

So eine Gaudi!(War eh klar, oder?)

5. Welches ist Dein Lieblingstier und warum?

Hören Sie mal, können Sie bitte mit Ihrem Ohr ein bisschen näher ran kommen? Ich will das nicht so rausschreien, aber ich steh ja schon ziemlich auf

6. Welches ist Dein Lieblingsgemüse und warum?

Ohne Worte

Die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet. Ich habe keine Ahnung.

7. Welches ist Dein Lieblingsobst und warum?

Ich habe kein Lieblingsobst. Im zarten Alter von acht oder neun Jahren hab ich mir mal an Dosenananas tierisch den Magen verdorben. Seither steigt mir jedesmal der Sud die Speiseröhre empor, wenn ich Ananas rieche oder gar schmecke.

8. Welche Musik hörst Du am häufigsten?

Na ja, was soll ich sagen

9. Würdest Du eher einen Nutzgarten oder einen Ziergarten anlegen?

Argh! An diesem Thema bin ich in den vergangenen zehn Jahren grandios gescheitert. Ein einziges Debakel, kann ich Ihnen sagen. Höchstens Steine. Steine kann ich!
Aber immerhin hab ich mich über Gärten erst vor ein paar Tagen ernsthaft  mit Frau Rosenherz in den Kommentaren unterhalten.

10. Feuer, Wasser, Erde, Luft – welchem Element würdest Du Dich zuordnen und warum?

Luft. Siehe Frage 3.

11. Hast Du jemals einen Blogeintrag bereut, den Du veröffentlich hast, und wenn ja warum?

Ach ja, es gibt eine ganze Menge so richtig schlechter Texte von mir, seit ich vor über einem Dutzend Jahren mit dem Bloggen begonnen habe. Aber bereut? – So richtig bereut hab ich keinen. Wahrscheinlich liegt das an der Verklärung der Vergangenheit. Man verdrängt ja gern die Jugendsünden.

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Man möge mir vergeben, dass ich die elf Fragen nicht weitergebe. Nehmt es nicht persönlich, das liegt an einem psychischen Defekt.

Zeitrechnung & Lieblinks (13)

Cigüeñas de Mazaleón

Früher habe ich langfristig gern in Olympiaden gerechnet. Also zum Beispiel: „Ich würde gern über drei olympische Sommerspiele hinweg studieren!“ Das habe ich dann auch geschafft. (Ich weiß, das hört sich geradezu unverschämt lang an, ist es aber gar nicht. Immatrikuliert habe ich mich rechtzeitig zum olympischen Jahr 1980 (Moskau) und mit dem Diplom abgeschlossen habe ich 1988 (Seoul). Mit sechzehn Studiensemestern habe ich damals die Regelstudienzeit gerade mal um ein Semester überzogen.)
Olympische Sommerspiele waren für mich früher Meilensteine, auf die ich hingefiebert habe. ’72 (München) und ’92 (Barcelona) habe ich sogar in den Austragungsstädten gelebt und mir ’ne ganze Menge der Wettbewerbe angesehen. Das war beide Male sehr toll.

Inzwischen ist meine Begeisterung für Sportveranstaltungen im Allgemeinen und für Olympische Spiele im Besonderen fast auf den Nullpunkt abgeflaut. Ich muss mir eine andere Langfrist-Zeiteinheit für meine Planung suchen. Und was würde sich dafür gerade heute mehr anbieten als Schaltjahre?
Am 29. Februar 2012 habe ich noch nicht in der Wortmischerei geschrieben, und mein früheres Blog lag damals bereits in der Agonie des bevorstehenden Todes. Ist heute also Premiere. Schaltjahrpremiere.

Wir reden jetzt über den 29. Februar 2020. Bis dahin will ich mich unbedingt ein bisschen mehr mit dem ollen Heimatort im Zonenrandgebiet zwischen Katalonien und Zentralspanien beschäftigen. Wenn bis dahin überhaupt noch etwas übrig bleibt. Vom Flüsschen, in dem wir früher™ den ganzen Sommer hindurch geschwommen sind und aus dem wir unvorsichtige Forellen mit der hohlen Hand gefangen haben, war schon im vergangenen Jahr fast nichts mehr übrig. Nicht dass mir irgendwann nur das Foto da oben mit dem Storchennest als Erinnerung bleibt.

Vista del campo en Mazaleón

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Bis dahin lest doch gern auch mal in der Nachbarschaft. Zum Beispiel beim Herrn Buddenbohm, der äußerst Erheiterndes zum heißen Scheiß Kleidungstrend Onesie absondert: „Man sieht auch nicht etwa wie ein Astronaut, ein Rennfahrer oder ein Monteur aus, man sieht, da gibt es überhaupt nichts zu diskutieren, gleich auf den ersten Blick einfach nur wie ein Depp aus. Und zwar in der Ausführung des Volldepps.“ Wer diese Don’t-do-this-at-home-Warnung vor dem Kauf eines kuscheligen, einteiligen Hausanzuges nicht liest, ist selbst schuld.

Bei Paul Kaufmann geht es weniger gefühlig zu, auch wenn die Ausgangsfrage in seinem Artikel „Du willst fremdgehen?“ lautet. Er zückt den verbalen Rotstift und macht sich an eine vergleichende Analyse der Kosten für One-Night-Stands, das Aushalten von Mätressen und Besuche im horizontalen Gewerbe. Die Lektüre des Textes ist übrigens auch dann zu empfehlen, wenn man auf die Ausgangsfrage mit einem klaren Nein antworten würde.

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Meine Lieblinks (12)

Drecksack

Fast Endstation ...

Von Herrn Alberts Wohnungstürschwelle bis zur Bahnsteigkante an den Gleisen, die vom Fuße des Taunushügels in die große Welt hinaus führen, ist man fußläufig genau zwei Minuten dreißig unterwegs. Ohne jede Hektik. Herr Albert hat also zwei Möglichkeiten, die gewünschte Bahn anzusteuern:
Entweder er geht mit fünf Minuten Vorlauf los, um dann unweigerlich von der Anzeigetafel am Bahnsteig ablesen zu müssen, dass der Zug leider einige Minuten Verspätung hat. Dann stößt er einen oft geübten tiefen Seufzer aus und wartet wieder einmal ein Viertelstündchen in Regen oder Schnee, bis sich der Fahrer endlich seiner erbarmt.
Alternativ kann sich Herr Albert auch erst drei Minuten vor der fahrplanmäßigen Abfahrt auf den Weg machen. In diesem Fall allerdings fährt die Bahn stets und zuverlässig eine Minute zu früh vor und er verpasst den Anschluss.

Diese Fahrplanregel ist insofern wundersam, als diese Haltestelle die erste nach Endstation ist. Es gibt für das beschriebene Phänomen nur eine einzige Interpretationsmöglichkeit: Bei den Fahrplanmodifikationen muss es sich um eine ausgeklügelte, besonders perfide Variante der sogenannten „Rache des kleinen Lokführers“ handeln.
Wahrscheinlich – ach was, Albert ist sich ziemlich sicher, dass es so ist! – befindet sich in seiner Wohnungstüre eine Kontaktschleife, die das Öffnen des Türblattes über Richtfunk direkt in die Fahrerkabine der U-Bahn überträgt. „Aha“, denkt sich der Nahverkehrschauffeur dann, „heut ist er mal wieder früh dran, der Herr Albert. Dann lass ich mir eben noch ein bisschen Zeit und rauch noch eine, bevor ich losfahre.“
Lässt das Türkontaktsignal jedoch auf sich warten, erkennt der Fahrer messerscharf: „Ui, heut kommt der Albert echt auf den Punkt. Jetzt aber nichts wie los, nicht dass er die Bahn womöglich noch rechtzeitig erreicht!“

Ja, zwischen Herrn Albert und dem Fahrpersonal des Rhein-Main-Verkehrsverbundes herrscht verkniffener, bösartiger Kleinkrieg. Es gibt nur eine Methode, die Kerle zu überlisten: Früh losgehen, aber zwischenzeitlich noch leere Flaschen im Keller deponieren und ein oder zwei Müllsäcke in die Container entsorgen. Dann und nur dann steht er auf den Punkt am Gleis und steigt zu, nicht ohne dem Fahrer vom Dienst zuvor noch ein fieses Grinsen zuzuwerfen: Diesmal hast Du verloren, Du Drecksack!

Statussymbole?

Och, sie mögen kein Markengedöns. Wollen Sie damit sagen, all die Bemühungen der Werbeindustrie, Ihnen ihre Angebote schmackhaft zu machen, verhallen ungehört? Sie haben in Ihrer Wohnung nirgends einen George Clooney oder wenigstens einen sensiblen Kaffeeautomaten stehen? Kein Pitralon-Rasierduft in Ihrem Badezimmer? Keine Zimmerli-Herrenunterhemden in Ihrem Kleiderschrank liegen? Auch keinen Hahnemühle-Skizzenblock auf ihrem Schreibtisch griffbereit? Kein Faber-Castell-Bleistift im Köcher? Auch keine Mammut-Jacke, die sie vor den Unbillen der Natur schützt? Vermutlich haben Sie auch keine Briefmarke im Haus.
Rosenherz

Mit diesem Kommentar lockt mich Frau Rosenherz aus der Reserve, nachdem ich vor ein paar Tagen über Käufer von Krokodil- und andere Marken hergezogen bin. Mein Rundumschlag war ja auch ziemlich gemein; wer bin ich denn, anderen das Tragen von zum Beispiel pfotenbestickten Kleidungsstücken madig zu machen?

Aber ich sehe schon, dieser Sache mit den Markenartikeln müssen wir auf den Grund gehen. Schonungslos. – Dann kommt doch einfach mal rein in die gute Stube. Setzt Euch, macht es Euch gemütlich, Kaffee kommt gleich.

Mein hipsteriger Kaffeevollautomat verströmt allerdings kein Marken- sondern Bohnenaroma und braucht ’ne Weile, ihr müsst Euch also gedulden. Den hab ich übrigens auf einer Dult im spanischen Huesca erstanden. Ohne Karton, ohne Herstellerhinweis. Der Rasierduft im Badezimmer hat natürlich einen Namen, der steht aber nicht drauf (auch nicht auf der Rückseite) und kennen tut ihn ohnehin kein Mensch, weil man ihn in Parfümerien längst nicht mehr bekommt. Auf meinen Unterhemden steht absolut nichts drauf außer Waschhinweise auf dem Zetterl im Halsausschnitt, und Skizzen- oder Notizblöcke verwende ich nicht. (Papier lasse ich mir vom Großhändler mitbringen, in unbedruckten, markenlosen Umverpackungen.)

Sachen in der Wortmischerei

Die Bleistifte im Köcher! Ich drehe durch, Frau Rosenherz hat mich tatsächlich erwischt. Die Stifte sind zwar nicht von Faber-Castell, aber von der Staedler Mars GmbH aus Nürnberg, die ganz sicher auch jeder kennt, die Marke mit dem behelmten Römerkopf.
Und die Geschichte meiner Winterjacke treibt mir noch heute die Schamesröte ins Gesicht: Vor zwölf Jahren kaufte ich mir eine sagenhaft robuste grobe Leinenjacke in einem Textilgeschäft in München. Der Preis war ein Witz, das Ding war auf 99 Euro runtergesetzt. Und dieses komische Emblem am Ärmel, ein rotes Wappen mit weißem Kreuz darin hatte ich vorher nie gesehen. Der Jacke sieht man ihr Alter noch heute nicht an, da ist nichts abgeschabt, keine Naht aufgegangen, alles tiptop!
Aber seit mindestens fünf Jahren rennt gefühlt jeder, der keine Wolfskin-Jacke trägt, mit einer von Wellensteyn herum, der Marke mit dem weißen Kreuz im roten Wappen. Lange Zeit nach dieser Entdeckung war mein Verhältnis zu meiner einstigen Lieblingsjacke stark getrübt. Ich fror lieber, als mich in sie zu gewanden. Solange bis ich das $(#3!$$-Emblem abtrennte und einen runden NASA-Raumfahrt-Button draufbügelte. Jetzt trau ich mich damit wieder auf die Straße.
Ja ja, lacht nur. Mir ist das aber wichtig.

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Aber es kommt noch viel schlimmer. Als ich unlängst mit dem A. auf meinem Sofa herumlungerte und an ihm meine geplante Tirade über Krokodiliges ausprobierte, ermahnte er mich:
„Sei nicht so selbstgerecht. Sieh Dir nur mal diese Regalwand an.“
Er deutete auf die gegenüber liegende Seite des Raumes.

Keine Chance für Billy

„Schau Dir das mal an, so wie es ein zwar neugieriger, aber unvoreingenommener Besucher sehen würde: Meterweise Bücher! Und noch immer Platz für mehr. Was glaubst Du, kommt da rüber?“
„Keine Ahnung. Sag Du es mir“, erwiderte ich lahm.
„Ja, ich sag es Dir! Du machst hier einen auf intellektuell. Und wenn man genauer hinsieht, wird es noch schlimmer: Fast genau so viele spanische und englische Titel wie deutsche. Wie angeberhaft ist das denn? Auch wenn Du unten vor der Tür bloß dieses abgewrackte Motorrad stehen hast, Dein Bücherregal steht einem Benz-SUV letzer Generation und mit allem Schnickschnack in nichts nach, mein Lieber!“
„Böh …“, murrte ich.
„Und dann dieses Klavier, um Himmels Willen. Da braucht nur mal einer den Deckel kurz anheben: Steinway & Sons. Du musikalisches Großmaul, Angeber!“
„Aber das hab ich geerbt!“, begehre ich auf und gehe in Verteidigungshaltung.
„Aha? Und diese sauteuren Boxen im Regal? Hast Du die auch geerbt? Oder hätte es vielleicht auch etwas Günstigeres aus dem M*diamarkt getan?“

Jetzt bin ich beleidigt. Für die SONOS-Musikanlage hatte ich jahrelang gespart. Die hab ich doch für mich gekauft, nicht um Besucher damit zu beeindrucken. A. ist ein Arschloch. Der kann einem auch den letzten Spaß am Leben nehmen.

„Du bist der gleiche Statusjunkie wie die Wolfskin-Abercrombie-Fans, die Du anprangerst, mein Lieber. – Hast Du noch was von dem Rotwein? Der ist wirklich gut.“ Der A. hält sein leere Glas in die Höhe.
Eilfertig flitze ich hinunter in den Keller und ziehe eine Flasche aus dem Regal. Ohne Etikett. Die ist nämlich von der Cooperativa aus dem Familiendorf in Teruel. Da wird der A. Augen machen.

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Ach ja: Natürlich habe ich auch Briefmarken im Haus, Frau Rosenherz, auch wenn ich die so gut wie nie benötige ;-þ

Krokodile!

Cocodrilo

In den Achtzigern verbrachte ich einige Monate in Diensten einer politischen Stiftung in Costa Rica. Ich hatte nebenbei sehr viel Zeit für Erkundungen und begleitete ab und zu einen jungen Ranger durch den karibischen Nationalpark Tortuguero, als ehrenamtlicher Übersetzer. Er sprach nur spanisch, die Touris nichts anderes als englisch oder deutsch.
Eines der absoluten Highlights auf den Bootstouren durch den Küstendschungel waren die Momente, wenn Raúl den Außenborder drosselte und irgendwo ins Unterholz deutete: „Miren, cocodrilos.“ – „Schaut mal, Krokodile.“
Wir paddelten dann näher ans Ufer, bis schließlich alle die Tiere erkennen konnten. Das waren meist kleine Burschen, einschließlich Schwanz nicht länger als ein menschliches Bein, aber immer hoch aggressiv und angriffslustig. Raúl machte sich einen Spaß daraus, die jungen Krokos sich wie kleine Hunde ins Paddel verbeißen zu lassen, während dazu die Auslöser der Spiegelreflexkameras seiner Gäste klackerten wie auf einer Pressekonferenz, in der sich Obama und Putin in den Armen liegen.
Ich hatte dabei ja immer ein bisschen Gänsehaut, wenn ich an Mama und Papa der Krokokids dachte, die ja auch irgendwo in der Nähe sein mussten: „¡No tenga miedo! – Keine Angst!“, erklärte mir Raúl grinsend. „Die sind viel zu schlau, um sich mit Menschen anzulegen.“

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In den letzten Jahren vor dem Abitur gab es an unserer Schule eine feine, wenn auch sehr kleine Kapitalistenfraktion; mit frühen Popper-Haarschnitten und dicken Statussymbolen. Der P., ungekrönter Chef der künftigen Wirtschaftselite, fuhr am Tag seines 18. Geburtstages mit einem gebrauchten, aber pikobello gepflegten Porsche-Cabrio vor.
Mit dem konnten natürlich nicht alle Poppis mithalten. Aber ein Statussymbol einte sie alle: Als Uniformelement trugen sie Oberteile von Lacoste, der Marke mit dem Krokodil. Im Sommer Polo-Shirts, im Winter Pullover mit V-Ausschnitt.
Wir anderen, die wir vielleicht besser Fußball spielen konnten als die Poppis, die wir progressivere Musik hörten und unser Leben insgesamt experimenteller gestalteten, hassten die Lacoste-Fraktion aus ganzem Herzen. – Das war Neid, sagt Ihr? Nein. Ganz gewiss nicht. Wir hätten niemals getauscht mit diesen Bengeln, Muttersöhnchen allesamt und Adepten der Sträuße.

Ich bin ganz sicher, dass in jener Zeit meine abgrundtiefe Verachtung für Markengedöns und den unbezahlten Werbeschaulauf mit Markenkleidung angelegt wurde. Natürlich ist mir klar, dass die Botschaft eines Lacoste-T-Shirt-Trägers nicht lautet: Seht mal, ich werde von denen bezahlt; sondern: Seht mal, das kann ich mir leisten!
Trotzdem stehe ich fassungslos vor all den Menschen, die quer über die Brust den überdimensionierten Schriftzug HOLLISTER tragen, so dass ihn sogar Sehbehinderte noch auf hundert Meter Entfernung ablesen können. Und mir gruselt beim Gang durch die Innenstadt, wenn ich gefühlt als einziger Mensch durch ein Heer untoter Jack-Wolfskin-Zombies mit dem gestickten Tatzenabdruck auf Brust oder und Rücken von Outdoor-Jacken schleiche.

Wieso in aller Welt gibt man für solch unverschämte Werbung auch noch viel Geld aus?
Als junger Kerl fuhr ich mit magnetischen Werbetafeln der Tankstellenkette JET an den Autotüren durch die Gegend. Dafür bekam ich eine kostenlose Tankfüllung Sprit im Monat. Jahre später knibbelte ich jedesmal, wenn das Auto aus der Werkstatt kam, mit Heißluft aus dem Föhn den Werbeaufkleber von der Heckklappe.
Hingegen bezahlen die menschlichen Abercrombie-Hollister-Wolfshaut-Litfaßsäulen für ihre Werbeklamotten sogar freiwillig Geldbeträge, die um ein Vielfaches über denen gleichwertiger No-Name-Produkte liegen.

Versteh einer die Menschen.

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(Zu diesem tierischen Ausbruch inspiriert hat mich Lakritze.)

Alkohol ist …

Bierzapfe

… Dein Fallschirm und Dein Rettungsboot. – Zweite Hälfte der 80er Jahre. Mittagspause in einem deutschen Elektrokonzern mit angeschlossener Bank am Südostrand einer bekannten bayerischen Großstadt. Ich habe mein Studium so gut wie abgeschlossen und als Bit-und-Byte-Jongleur angeheuert.
Ein paar längergediente Kollegen, der Chef und ich stapfen aus dem Büroturm über rot geklinkerte Wege, bis wir den Kantinenbau erreicht haben. An der Essensausgabe, lassen wir uns die Teller vollhäufen und steuern auf die Kassen zu. Auf dem Weg machen wir noch an der Getränkestation halt. Neben Wasser, Cola, Fanta, Sprite gibt es auch Zapfhähne mit Bier. Die ganze Truppe nimmt sich Willibecher, jeder zapft sich eine Halbe. Der Chef natürlich auch. An allen Tischen hat mindestens jeder Zweite ein Bierglas’l vor sich stehen. Normalität in der deutschen Industrie.
(Mein Vater berichtet, dass sich die Kantine der Führungskräfte durch drei Dinge von der fürs Fußvolk unterscheidet: Es gibt Tischtücher, das Essen wird am Tisch serviert und sie trinken Weißwein statt Bier.)

Rund zehn Jahre später. Ich arbeite in einem tiefgekühlten Bürogebäude in Barcelonas Arbeitervorort Cornellà. Mittags, kurz vor zwei, treten wir hinaus in die glühende Hitze und wandern zu einem der Restaurants, die sich auf Mittagsmenüs spezialisiert haben. Der Kellner betet drei Vorspeisen, drei Hauptgerichte und drei Nachspeisen herunter. Jeder kombiniert, wie er will. Auf dem Tisch stehen Flaschen mit gekühltem Rotwein*, von dem jeder soviel trinkt, wie er Lust hat. Ist die Flasche leer, bringt der Kellner eine volle. Ist im Menüpreis von damals tausend Peseten (rund sechs Euro) inbegriffen. Bevor wir ins Büro zurückschlendern, trinken wir alle noch einen Carajillo. Normalität am spanischen Mittagstisch.

*) Den gleichen Wein gibt es in den Bodegas am Straßenrand aus Fässern in mitgebrachte Plastikkanister abgefüllt zum Mitnehmen nach Hause. Kostenpunkt pro Liter: zwischen 70 und 200 Peseten (rund 50 Cent bis 1,20 Euro)

Etwa weitere zehn Jahre später. In meiner ersten Arbeitswoche beim neuen Arbeitgeber in Mainhattan wird ein Kollege abgemahnt, weil auf der Spesenrechnung eines Abendessens mit Kunden drei Bier aufgeführt sind.
In der Hausordnung der Büros steht ausdrücklich vermerkt, dass jegliche Form von Alkohol (und sogar alkoholfreies Bier und Sekt) auch bei Geburtstags-, Einstands- und Abschiedsfeiern streng verboten ist. – Hoppla! Was ist passiert mit der einstigen Normalität?

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Heute ist Tag vier von insgesamt 39 Tagen Enthaltsamkeit. Inzwischen mache ich das gern: Zweimal im Jahr vier oder fünf Wochen ohne Bier, Wein und andere Darreichungsformen von Alkohol. Auf so eine Idee wäre ich früher™ (siehe oben) nicht gekommen.
(Update 16.2.2016: Bitte unbedingt weiterlesen bei Frau Rosenherz)

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Fastentage: 4
Gewicht: minus 2 Kilo (das geht viel zu schnell, ich muss unbedingt mehr essen)

Hellauf & Platz da! *

Mardi Gras 1977, von Bruce Gilden

Nun ist es mir also in diesem Jahr erstmalig gelungen, mich den Auswüchsen von Fasching, Fastnacht, Karneval & Co. vollständig zu entziehen. Größten Anteil an diesem Erfolg hat allerdings nicht etwa meine gefestigte Verweigerungshaltung sondern das sagenhaft be$(#!$$3n3 Wetter:
Seit Samstagabend regnet es pausenlos. Wobei das läppische Tätigkeitswort regnen nicht ausreicht, die Lebenswirklichkeit da draußen auch nur annähernd wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. – Es kübelt, schüttet, gießt wie aus Eimern und sorgt dafür, dass Bedauernswerte, die aus dem Haus müssen, sofort instinktiv zu Schwimmbewegungen ansetzen, sobald sie der Umwelt ausgesetzt sind. Einige der Passanten, die ich durch die dichten Regenschlieren an den Scheiben erkennen kann, tragen Stirnlampen, deren LED-Schein durch die ganztägige Dauerdämmerung zu dringen versucht.
Auf dem Hof der Schule gegenüber meiner Dachterrasse ist eben ein Pumpwagen der Feuerwehr vorgefahren. Da ist wohl ein Keller vollgelaufen. – Helau & Alaaf!

Meinen Schilderungen können alle Leser unschwer entnehmen, dass das Bild da oben nicht im hiesigen Faschingstreiben entstanden ist. Es stammt vielmehr aus einer schönen, wenn auch vierzig Jahre alten Fotoserie von Bruce Gilden vom Mardi Gras in New Orleans, die ich unbedingt empfehlen möchte.
Wer sich mehr für das aktuelle Treiben interessiert, den schicke ich nach drüben ins Teestübchen von Herrn Trithemius, wo man nicht nur alles über das rasende Hannover im Konfettirausch erfahren sondern auch mein absolutes Lieblings-Karnevalsvideo ansehen kann, nämlich die köll’sche Version von Adeles Superhit Helau!

Während Ihr Euch dort vergnügt, schwinge ich schon mal ein in den grauen Seelenzustand, der spätestens ab dem morgigen Aschermittwoch für die nächsten vierzig Tage andauern wird.

All ab! *

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*) zur Herkunft der Karnevalsausrufe (Update 12.2.2016: Siehe aber auch Diskussion in den Kommentaren weiter unten.)